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(GZ-9-2021)
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► Gewaltige Herausforderungen:

 

Neustart Pflege

Fachtagung der Hanns-Seidel-Stiftung und der Landesvertretung Bayern des vdek

 

Die Corona-Pandemie stellt die Altenpflege vor gewaltige Herausforderungen. In einem bisher beispiellosen Stresstest wurden viele Lichtblicke, aber auch erhebliche Defizite sichtbar. Mit der Frage: „Neustart Pflege – Wie machen wir die Pflege demografiefest und langfristig finanzierbar?“ befasste sich in München eine Fachtagung der Hanns-Seidel-Stiftung sowie der Landesvertretung Bayern des Verbandes der Ersatzkassen mit Experten aus Politik, Wissenschaft und Versorgung.

„Wie wir mit Pflegebedürftigen künftig umgehen, wird zum Prüfstein der humanitären Qualität unserer Gesellschaft“, betonte eingangs Markus Ferber, MdEP, Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung. Doch wird aus seiner Sicht auch der Umgang der Gesellschaft mit dem Pflegepersonal die Versorgungsqualität prägen. Jetzt gelte es, die richtigen Weichen zu stellen.

Pflege ist bereits ein Megathema und wird im Zuge des demografischen Wandels an Bedeutung gewinnen. Haben im Jahr 2000 noch etwa 2 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung bezogen, waren es 2020 bereits 4,2 Millionen. Bis 2030 dürften es nach Berechnungen der Pflegekassen 4,8 Millionen sein, 2050 bereits 6 Millionen Pflegebedürftige.

In seiner Begrüßung diagnostizierte Ralf Langejürgen, Leiter der vdek-Landesvertretung Bayern, zwei Kernprobleme der Altenpflege: den akuten Fachkräftemangel und die nachhaltige Pflegefinanzierung. Der Mangel an Pflegefachkräften gehöre sowohl aktuell als auch perspektivisch zu den größten Herausforderungen in der Alten- und Krankenpflege „und es geht da nicht nur um die Bezahlung, sondern auch um die Arbeitsbedingungen in den Heimen und bei den ambulanten Pflegediensten“.

Neues Gleichgewicht

In Sachen Pflegefinanzierung plädiert der Verband der Ersatzkassen für ein neues Gleichgewicht im Finanzierungsgefüge. Nach Langejürgens Einschätzung „werden wir ein einigermaßen gerechtes Finanzierungsmodell nur erreichen können, wenn wir die Interessenlagen zwischen den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, den Beitragszahlern und den Steuerzahlern besser austarieren. Wir haben als Ersatzkassenverband die Ungleichgewichte in der Finanzierungsstruktur – Stichwort massiv steigende Eigenanteile – mehrfach deutlich annonciert. Hier den richtigen Weg zu finden, wird die große Herausforderung sein.“

Langejürgen plädierte für ein stärkeres Augenmerk auf die Krisenfestigkeit der Pflege: „Die Pandemie hat es für alle sichtbar gemacht: Die Altenpflege ist – trotz aller Anstrengungen der Einrichtungen, der Politik, der Pflegekassen – nicht wirklich krisenresistent. Vor allem im Blick auf den Schutz der Risikogruppen werden wir alles daransetzen müssen, um die Schutzmechanismen zu verbessern.“

Pflege attraktiver machen

Allein in Bayern rechnet man damit, dass die Zahl pflegebedürftiger Menschen bis 2050 von derzeit 500.000 auf bis zu 880.000 ansteigen könnte. Der Bayerische Staatsminister für Gesundheit und Pflege Klaus Holetschek, MdL, will deswegen Pflegeberufe für Fach- und Hilfskräfte attraktiver machen, etwa durch Steuererleichterungen im Bereich der Nacht- und Wochenendzuschläge sowie durch die Neuverteilung von Verantwortlichkeiten. So soll auch mehr Personal in der Langzeitpflege gewonnen werden. Außerdem müssten die Finanzierbarkeit der Pflege langfristig sichergestellt und eine nach den Bedürfnissen des Einzelnen ausgerichtete Versorgung gewährleistet werden.

Denkansätze

Eine nachhaltige Finanzierung der Pflege müsse aus bayerischer Sicht folgende Denkansätze aufweisen:

1. Personenzentrierte Versorgungsstrukturen durch Aufhebung der Sektorengrenzen ambulant und stationär im Leistungsrecht, um den Bedürfnissen des Einzelnen wieder gerecht zu werden. Nicht Abrechnungsfragen, sondern der pflegebedürftige Mensch steht im Mittelpunkt.

2. Entlastung von Pflegebedürftigen bei überdurchschnittlich langen Pflegeverläufen – zum Beispiel, indem man den einrichtungseinheitlichen Eigenanteil über die Jahre gestaffelt, prozentual absenkt.

3. Jährliche, verbindliche Dynamisierung der Leistungsbeträge, d.h. steigende Sachkosten und Löhne in der Pflege durch jährliche, verbindliche dynamische Erhöhung der Leistungsbeträge abbilden.

4. Steuerfinanzierter Bundeszuschuss, insbesondere für versicherungsfremde Leistungen

5. Übernahme der Ausbildungskosten des Pflegepersonals. Bislang werden Ausbildungskosten auf die Pflegebedürftigen umgelegt, dabei wäre die Ausbildung von Pflegepersonal im gesamtgesellschaftlichen Interesse.

„Wir müssen die Pflege fit für das 21. Jahrhundert machen“, forderte Holetschek. Im Mittelpunkt stünden die Pflegebedürftigen einerseits und Pflegende andererseits.

„Das heißt, wir brauchen bedarfsgerechte Versorgungsangebote und attraktive Arbeitsbedingungen, aber die Kosten dürfen die Pflegebedürftigen nicht überfordern.“

„Die im Arbeitsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums vorgesehene Finanzreform ermöglicht keinen Neustart in der Pflege“, resümierte der live zugeschaltete Prof. Dr. Heinz
Rothgang, Vorstandsmitglied des SOCIUM: Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen.

In seinem Vortrag „Pflegereform 2021 – Wird es für einen Neustart reichen?“ verwies er darauf, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch vor den Bundestagswahlen eine weitere Reform der Pflegeversicherung durchs Parlament bringen will. Zentrales Reformanliegen sei eine finanzielle Entlastung langjähriger Heimbewohner wegen stetig gewachsener Eigenanteile zur Pflege.

Laut Arbeitsentwurf soll der Eigenanteil, der für die reine Pflege anfällt, nach mehr als einem Jahr im Pflegeheim um 25 Prozent abgesenkt werden, nach mehr als zwei Jahren um die Hälfte und nach mehr als drei Jahren um 75 Prozent. Im Eckpunktepapier dagegen soll der Pflege-Eigenanteil für die Dauer von 36 Monaten auf maximal 700 Euro begrenzt werden. Aktuell müssen Heimbewohner für die Pflege einen Eigenanteil von 786 Euro monatlich zuzahlen. Insgesamt beläuft sich der Zuzahlungsbetrag auf zuletzt durchschnittlich 2.068 Euro pro Monat. Darin sind auch die Kosten für Verpflegung und Unterbringung sowie Ausbildungskosten berücksichtigt.

Wie Rothgang erläuterte, wäre nur bei einem Drittel der Heimbewohner die Entlastungswirkung des Arbeitsentwurfs teilweise höher als jene des Eckpunktepapiers. Bei einem weiteren Anstieg der Pflegesätze verringere sich aber die Entlastungswirkung aus dem Arbeitsentwurf. In beiden Papieren vorgesehen ist eine Länder-Beteiligung an den Investitionskosten von Heimen in Höhe von monatlich 100 Euro für jeden Pflegebedürftigen, wodurch die Pflegebedürftigen indirekt entlasten würden.

Im Eckpunktepapier sei eine Deckelung des Pflege-Eigenanteils noch angedacht, im Arbeitsentwurf jedoch nicht mehr vorgesehen. Dabei wäre doch eine Finanzreform der Pflege gerade deshalb dringend nötig, weil die Eigenanteile der Heimbewohner zuletzt stark gestiegen sind und aufgrund wachsender Personalkosten noch weiter zunehmen könnten. Rothgang zufolge ist schon jetzt ein Drittel der Heimbewohner auf Sozialhilfe angewiesen, ein weiteres Drittel verbraucht sein Restvermögen zur Kostendeckung und nur ein Drittel kann die Heimunterbringung aus eigenem Einkommen bezahlen.

Systemwechsel

Der Bremer Professor resümierte, dass der im Eckpunktepapier des BMG vom 04. November 2020 fixierte Vorschlag einen Systemwechsel impliziere. Der Vorteil: Kosten künftiger Qualitätssteigerungen würden von den Pflegebedürftigen auf alle Versicherten verlagert und die Eigenanteile kalkulierbar. Bisher wird eine bessere Bezahlung für Pflegekräfte auf Kosten der Pflegebedürftigen finanziert.

Als Voraussetzungen für eine zukunftsfeste Pflegeversicherung führte Rothgang schließlich die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege durch mehr Personal und die Einführung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur bundesweit einheitlichen Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen (Personalbemessungsverfahren) an.

Auch Katja Molitor vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege plädierte für einen dauerhaften Bundeszuschuss für die Pflegeversicherung und die Aufhebung der Sektorengrenzen. Sie teilte die Meinung Holetscheks, dass sich die Versorgungssysteme an den Bedürfnissen der Einzelnen ausrichten sollten. Mit dem BMG-Arbeitsentwurf insgesamt unzufrieden zeigte sich Emmi Zeulner, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages.

Sie plädierte dafür, noch in dieser Legislaturperiode die Eigenanteile zu deckeln und in der nächsten eine große Reform anzupacken: „Pflege muss im Alter planbar und verlässlich sein.“

Pfarrer Michael Bammessel, Präsident der Diakonie Bayern, sprach sich dafür aus, den Tätigkeitsbereich von Pflegekräften durch zusätzliche Kompetenzen zu erweitern, um ihnen so eine bessere Bezahlung und interne Aufstiegsmöglichkeiten bieten zu können.

Er kritisierte, dass eine Lohnsteigerung für Pflegekräfte aktuell nur auf Kosten der Pflegebedürftigen finanziert werden könne. Sein Fazit: „Wir planen eine Pflege-Revolution, einen neuen großen Wurf. Wir wollen nicht nur an kleinen Stellschrauben drehen!“

DK

 

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