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(GZ-15/16-2022)
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► Neue probabilistische Bevölkerungsprognosen für Kommunen:

 

Mehr Planungssicherheit

 

Gastbeitrag von Prof. Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler und Dr. Martin Messingschlager

Bevölkerungsprognosen sind eine wesentliche Grundlage für Planung und Gestaltung in Wirtschaft und Politik. In den vergangenen Jahrzehnten wurde zumeist ein deterministischer Ansatz- die sogenannte Kohorten-Komponenten-Methode – zur Erstellung von Bevölkerungsprognosen eingesetzt. In diesem Ansatz, welcher u.a. vom Statistischen Bundesamt in Deutschland und den statistischen Landesämtern verwendet wird, wird die Prognose unter der Annahme sicherer Erwartungen für die Zukunft durchgeführt. Das Problem: Die zugrunde gelegten Annahmen zum Verlauf der demografischen Prozesse treffen in aller Regel nicht ein. So zeigen auch ex-post Untersuchungen von Bevölkerungsprognosen, dass die tatsächlichen Verläufe immer wieder unter- oder überschätzt werden. Die Folgen: Schwer wiegende Fehlplanungen entweder oder- oder unterhalb des tatsächlich eintretenden Bedarfes z. Bsp. an Kita-Plätzen, Schulbauten, Pflege-Einrichtungen, Mobilitäts- und Bauinvestitionen. Als Lösungsbeitrag werden in jüngerer Zeit vermehrt sogenannte probabilistische Prognosen diskutiert. In ihnen wird der Verlauf demografischer Prozesse unter Einbeziehung von Wahrscheinlichkeiten prognostiziert. Das Ergebnis: Eine höhere Prognose-Genauigkeit und dadurch deutlich erhöhte Planungs- und Investitionssicherheit.

Die bisher gebräuchliche Komponenten-Kohorten-Methode basiert darauf, die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der demografischen Prozesse über Szenarien abzudecken – gewöhnlich als niedrige, mittlere und hohe Szenarien bezeichnet. Für die altersspezifischen Geburten, Sterbefälle und Wanderungen werden dabei jeweils Werte angenommen und die Bevölkerungsentwicklung daraus rechnerisch abgeleitet. Eine Reihe von Studien zeigt, dass die Genauigkeit von diesen deterministischen Modellen bei kürzeren Prognosezeiträumen größer ausfällt als für lange Zeithorizonte, und dass sie für größere Bevölkerungen besser ausfallen als für kleinere Bevölkerungen. Das schränkt die Verwertbarkeit im kommunalen Bereich ein – also genau dort, wo zurzeit die größte Verwendungshäufigkeit liegt. Weiter zeigt sich, dass Prognosen für alte und junge Bevölkerungsgruppen weniger treffsicher sind als Prognosen für Personen mittleren Alters. Wiederum ein Minuspunkt für die Verwendung im kommunalen Bereich. Denn dort gibt es einen hohen Bedarf an Prognosesicherheit gerade für junge und ältere Bevölkerungsgruppen – z. Bsp. was Kita-, Schul- und Betreuungsplanungen anbetrifft.

Die erwartete Genauigkeit oder Ungenauigkeit der Vorhersagen kann im deterministischen Modell nicht bewertet werden; statistisch nicht oder gering vorbelastete Nutzer in Behörden, Verwaltung und Politik sind allerdings vermutlich geneigt, das dennoch zu tun und dem mittleren Szenario die größte Eintrittswahrscheinlichkeit zuzuschreiben. Genau darin liegt ein weiteres Risiko: Die Zukunft hält sich nämlich laut Studien nur in sehr seltenen Fällen an das mittlere Szenario, viel häufiger sind niedrige oder hohe Szenarien.

Um diese Unzulänglichkeiten zu umgehen, werden in jüngerer Zeit vermehrt sogenannte probabilistische Prognosen diskutiert, in welchen der Verlauf demografischer Prozesse unter Einbeziehung von Wahrscheinlichkeiten prognostiziert wird. Probabilistische Bevölkerungsprognosen zeigen im Ergebnis, mit welcher Wahrscheinlichkeit Bevölkerungszahlen und Bevölkerungsstrukturen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft eintreffen können. Um Prognoseintervalle anzugeben, kommen zwei Ansätze zum Einsatz: (1) Der analytische Ansatz basiert auf einem stochastischen Kohorten-Komponenten-Modell. Dabei werden die Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Entwicklungen von Indikatoren der Fertilität, Mortalität und Migration (Gesamtfertilitätsrate, Lebenserwartung, und Nettomigrationsrate) in eine stochastische Verteilung für die Größe der Bevölkerung und ihre Alters- und Geschlechterstruktur transformiert. (2) Der Simulationsansatz folgt der Idee, hunderte oder tausende Prognosevarianten zu berechnen, welche auf Fertilitäts- Mortalitäts- und Migrationswerten beruhen, die zufällig aus den jeweiligen Verteilungen gezogen werden.

In der Literatur finden sich drei verschiedene Ansätze, um die Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Indikatoren von Geburten, Sterbefälle und Wanderungen für probabilistische Prognosen zu bestimmen. (1) Zeitreihenmodelle gehen davon aus, dass historische Werte der Indikatoren mittels statistischer Modelle beschrieben werden können, die auch in der Zukunft zutreffen können. (2) Alternativ kann die Fehlerschätzung ex-post erfolgen. Mit dieser können die beobachteten Fehler historischer Prognosen in die Zukunft extrapoliert werden. (3) Der expertenbasierte Ansatz beruht im Gegensatz zu dem datenbasierten darauf, dass Expertengruppen Annahmen über zukünftige Verläufe und ihre Unsicherheit festlegen.

Für unsere neuen Bevölkerungsprognosen greifen wir auf einen probabilistischen Ansatz zurück, der auch eine deterministische Komponente beinhaltet (Raftery et al. 2012). Während die Komponenten Fertilität und Mortalität probabilistisch in die demographische Bilanzgleichung einfließen, werden für die Migration bestimmte a priori Annahmen getroffen. Dieses Vorgehen ist insofern sinnvoll, da die internationale Migration wesentlich von politischen Rahmenbedingungen abhängt und vergangene Entwicklungen nicht ohne weiteres in die Zukunft übertragen werden können.

Die probabilistischen Projektionen der Gesamtfertilitätsrate und der Lebenserwartung erfolgen mit Hilfe hierarchischer Bayes‘scher Modelle, der Umrechnung der Ergebnisse in altersspezifische Raten und der Projektion der Bevölkerung mit Hilfe der Kohorten-Komponenten-Methode, die auf alle aus den Vorhersageverteilungen simulierten Verläufen angewendet wird (Ševcíková et al. 2016a). Die Medianprojektion aus dieser Methode wird seit 2012 auch als offizielle mittlere Projektion der Vereinten Nationen für einzelne Länder verwendet. Die Anwendung auf kleinere Räume (wie Kommunen) ist innovativ und wird u.W. hier erstmalig gemacht.

Als Beispiel haben wir die süddeutsche Universitätsstadt Bamberg ausgewählt. Hier wurde zum ersten Mal für den deutschsprachigen Raum auf kommunaler Ebene eine probabilistische Bevölkerungsprognose erstellt. Die im folgenden dargestellten probabilistischen Bevölkerungsprognosen für Bamberg basieren auf zwei Szenarien. Das erste Szenario geht von der unrealistischen Situation einer Nettomigration von Null bis zum Jahr 2040 aus, d.h. Zu- und Abwanderungen halten sich in diesem Modell die Waage, bzw. es finden keine Wanderungsbewegungen statt. Dieses Modell dient als Referenzmodell für das zweite realistische Szenario, in welchem einer moderaten positiven Nettomigration Rechnung getragen wird. Jedes der beiden Szenarien basiert auf 100 000 Modellläufen.

Abbildung 1
Abbildung 1

Abbildung 1 zeigt die probabilistischen Prognoseergebnisse für die Stadt Bamberg bis zum Jahr 2040 bei einer Nettomigration von Null. Die geschätzten Bevölkerungszahlen variieren in Abhängigkeit der eintretenden Fertilität und Mortalität, welche mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind.

Basierend auf der Fertilitäts- und Mortalitätsentwicklung seit 1999 ergeben sich je nach weiterer Entwicklung unterschiedliche Verläufe, welche in der Abbildung dargestellt sind. Neben dem mittleren Verlauf (dem sogenannten Median), der die geschätzten Verläufe exakt in der Mitte teilt, sind die unteren 2,5 und 10 Prozent und die oberen 90 und 97,5 Prozent der prognostizierten Bevölkerungszahlen abgetragen.

In 90 Prozent aller Modellläufe liegen die geschätzten Einwohnerzahlen unter 80 000 Einwohnern. Die mittlere Bevölkerungszahl gemessen am Median beträgt 76 618 Personen im Jahr 2030 und 75 592 Personen im Jahr 2040. Mit zunehmender Prognosedauer vergrößert sich die Unsicherheit in den Ergebnissen. Das 90-Prozent-Intervall der wahrscheinlichsten Bevölkerungsgrößen liegt im Jahr 2030 zwischen 75 840 und 77 300 Personen und im Jahr 2040 zwischen 74 499 und 77 163 Personen.

Zusammenfassend zeigt das probabilistische Prognosemodell unter der Annahme einer Nullwanderung, dass die Bevölkerungsgröße Bambergs bis zum Jahr 2030 im Median stagnieren und anschließend leicht rückläufig sein wird. Der Ausblick über 2040 hinaus legt einen beschleunigten Bevölkerungsverlust nahe.

Abbildung 2
Abbildung 2

Unter der Annahme einer moderaten Nettomigrationsdaten von 350 Personen pro Jahr zeigt sich eine andere Bevölkerungsentwicklung (siehe Abbildung 2). Es zeigt sich, dass eine moderate positive Nettomigration zu einem recht konstanten Bevölkerungswachstum führen wird. Eine Einwohnerzahl von 80 000 wird etwa in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre mit hoher Sicherheit überschritten werden. Aber auch nah dem Jahr 2030 zeigt sich noch ein Wachstumspotenzial. Mit zunehmender Prognosedauer vergrößert sich die Unsicherheit in den Ergebnissen. Das 90%-Intervall der wahrscheinlichsten Bevölkerungsgrößen liegt im Jahr 2030 zwischen 79 498 und 81 026 Personen und im Jahr 2040 zwischen 82 115 und 85 002 Personen.

Die mit den jeweiligen Prognosen einhergehenden Altersverteilungen legen eine massive Bevölkerungsveränderung nahe, welche vor allem durch eine Alterung geprägt sein wird (Abbildung 3). Eine gewisse Unsicherheit gibt es jedoch bei den Altersgruppen unter 25 Jahren.

Abbildung 3
Abbildung 3

Abschließend sei festgehalten, dass die Fertilität in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Situation, der verfügbaren Kinderbetreuungsangeboten u.a.m. variiert. Auch die Mortalität ist mit dem Ausbruch von Pandemien, klimatischen Ereignissen u.s.w. gewissen Schwankungen unterworfen. Die Nettomigration verändert sich u.a. in Abhängigkeit vom weiteren Ausbau der Universität und dem damit einhergehenden Wachstum der Studierendenzahl sowie der künftigen Entwicklung des Arbeitsmarktes. Daneben sind auch singuläre Ereignisse wie die Flüchtlingssituation in 2015 und 2016 zu berücksichtigen, welche kaum vorhersehbar sind. Voraussetzung einer positiven Zuwanderung ist natürlich die Schaffung von entsprechendem Wohnraum. Die dargestellten Ergebnisse der probabilistischen Prognosemodelle beinhalten in den dargestellten Schätzintervallen diese Unsicherheiten in der Fertilität, Mortalität und Nettomigration, ohne auf die jeweiligen Bedingungen explizit einzugehen. Bei hoher Fertilität, geringer Mortalität und hoher Nettomigration werden sich die Bevölkerungszahlen im oberen Bereich und bei niedriger Fertilität, hoher Mortalität und geringer Nettomigration im unteren Bereich der dargestellten Prognoseintervalle bewegen.

Neben der Anpassung an den Klimawandel stellt der demografische Wandel die größte Herausforderung für Kommunen in Deutschland dar. Um hier Handlungsfähig zu sein, sollten unbedingt neue Prognosemöglichkeiten verwendet werden, die eine Einschätzung der Prognosegenauigkeit ermöglichen und damit die verbundenen Investitionen effizienter einzusetzen.

Referenzen

  • Raftery, A. E., N. Li, H. Sevcíková, P. Gerland und G. K. Heilig (2012). Bayesian Probabilistic; Population Projections for All Countries. Proceedings of the National
  • Academy of Sciences, 109, 13915-13921. doi:10.1073/pnas.1211452109.
  • Sevcíková, H. und A.E. Raftery (2016). bayesPop: Probabilistic Population Projections.
  • Journal of Statistical Software, 75, 5. doi: 10.18637/jss.v075.i05.

Prof. Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler und Dr. Martin Messingschlager

 

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