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(GZ-6-2021)
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► Konversion:

 

Deutliche Appelle an Kommunen

 

Konversion bedeutet nicht nur, sogenannte Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe zu dezentralisieren. Gefragt ist eine ressortübergreifende Sozial- und Infrastrukturplanung. Wie diese gelingen kann, darüber diskutierten Experten und Abgeordnete im Ausschuss für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie im Bayerischen Landtag. Eine zentrale Rolle wurde den Gemeinden in der Diskussion von verschiedenen Experten zugesprochen. So sei die Einbindung von Bürgern und Vereinen für den Erfolg eines solchen Projekts entscheidend.

Junge Menschen, die sich teilweise in einem schwierigen Ablösungsprozess befinden, Bewohnerinnen und Bewohner mit unterschiedlichem Hilfebedarf und alt gewordene Menschen – sie alle leben gemeinsam in ihrer vertrauten Umgebung im Ort Schönbrunn im Landkreis Dachau. Dort stellt das Franziskuswerk Menschen mit Behinderung unterschiedliche Wohnformen bereit, um individuell auf ihre Bedürfnisse einzugehen.

Das Unternehmen für soziale Arbeit mit Hauptsitz in Schönbrunn zählt zu den sogenannten Komplexeinrichtungen. Das sind Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit einem differenzierten Angebot in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit und Pflege an einem Standort. Dass der Bereich „Wohnen“ künftig viel stärker im Zusammenspiel mit dem Umfeld und damit dem inklusiven Sozialraum betrachtet werden müsse, fasste die Vorsitzende des Sozialausschusses Doris Rauscher (SPD) als ein Ergebnis der Expertenanhörung zusammen.

Vorteile der Konversion

Die Dezentralisierung und Umwandlung von Angeboten am Stammstandort eröffnet Menschen mit Behinderung zusätzliche Chancen und Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Öffnung der Stammstandorte hin zu einem inklusiven und heterogenen Sozialraum ermöglicht damit neue Formen des Gemeindelebens und der Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderung. Die Umwandlung und Neugestaltung von Angeboten und Einrichtungsstrukturen kann aber nur gelingen, wenn die dort lebenden Menschen sich beteiligen und mitwirken können und Angehörige eingebunden werden.

Welche Rolle spielen die Kommunen?

Die Konversion einer Komplexeinrichtung hat vor allem Auswirkungen auf die Gemeinde und die Region, in der die Einrichtung liegt. Denn Komplexeinrichtungen sind oft ein bedeutender Arbeitgeber und Wirtschaftsfaktor in der Region. Eine Beteiligung der Kommunen, Bürgerinnen und Bürger sowie von örtlichen Vereinen in einem frühen Planungsstadium und bei der Umsetzung wurde von den Experten in der Anhörung deshalb als zentral für den Erfolg eines solchen Projekts angesehen.

Dabei komme es neben geeigneter Infrastruktur vor allem auf die Unterstützung und Akzeptanz der Bürger für eine gelingende Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung an. Diesen Aspekt erläuterte Peter Wirth, Leitung Referat Soziales des Bayerischen Bezirketags, in der Expertenrunde:

„Für Gemeinden und Landkreise ist es ganz wichtig, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam im Sozialraum eingebunden werden. Echte Teilhabe kann aber nur gelingen, wenn auch örtliche Vereine vorbereitet sind und sich darauf einstellen.“

Versorgungsstrukturen hinterfragen

Michaela Streich, Geschäftsführerin des Franziskuswerks Schönbrunn und im Vorstand der Viktoria von-Butler-Stiftung, erläuterte in diesem Zusammenhang, vor welchen Herausforderungen Einrichtungen stehen, die sich von Grund auf wandeln wollen. Sie stellte heraus, dass Konversion in verschiedene Richtungen gedacht werden müsse.

Die Unterstützung der Kommunen sei dabei entscheidend. Im Fokus stehe das Hinterfragen von Versorgungsstrukturen, so dass alle Bürgerinnen und Bürger im ländlichen Raum davon profitieren. So könnten das Bürgerhaus und Arztpraxen des Franziskuswerks nicht nur von den Bewohnern der Einrichtung, sondern von allen genutzt werden.

Finanzbedarf für Konversionsmaßnahmen

In Bayern gibt es nach einer Erhebung der bayerischen Bezirke aus dem Jahr 2018 insgesamt 41 Komplexeinrichtungen mit rund 10.250 gemeldeten Wohnplätzen. Dazu zählen Einrichtungen mit mindestens 100 Wohnplätzen an einem Standort und mindestens einem weiteren Leistungsangebot der Eingliederungshilfe am selben Standort.

Eine 2018 durchgeführte Abfrage der Wohlfahrtsverbände über die Kosten der Konversion, insbesondere in Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie, ergab Gesamtkosten von 1,2 Mrd. Euro für die kommenden zwölf Jahre. Darin sind alle Kosten enthalten, die Einrichtungen und Diensten entstehen, um inklusive Sozialräume am und außerhalb des Stammstandorts der Einrichtungen entwickeln zu können. Von diesen Gesamtkosten entfallen circa 700 Mio. Euro direkt auf die Schaffung bzw. die Sicherstellung von Wohnplätzen.

Sonderinvestitionsprogramm nicht ausreichend

2019 brachte der Freistaat Bayern ein Sonderinvestitionsprogramm auf den Weg. Damit sollen die Träger bei der Konversion unterstützt werden, indem sie moderne, inklusive Wohnformen entwickeln. So sollen die Einrichtungen mit der vor Ort verfügbaren Infrastruktur (ÖPNV, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeit etc.) besser vernetzt werden und sich gleichzeitig stärker als bisher für alle im Wohnort lebenden Bürgerinnen und Bürger öffnen. In den kommenden 20 Jahren sollten den Einrichtungsträgern für die Umsetzung der Konversion vom Freistaat 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.

Im Doppelhaushalt 2019/2020 wurde das Sonderinvestitionsprogramm mit fünf Millionen Euro jährlich ausgestattet. Der Finanzbedarf wird jedoch – wie bereits aufgeführt – als deutlich höher eingeschätzt, so dass die bereitgestellten Mittel als deutlich zu niedrig erachtet werden.

Paradigmenwechsel gefordert

Werner Fack, Referent Behindertenhilfe des Fachverbands evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V., gab zu bedenken, dass sich Komplexeinrichtungen zunehmend zu Spezialeinrichtungen für Menschen mit sehr komplexen Funktionsstörungen und schwierigem Verhalten verändern.

Der geforderte Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe brauche deshalb sichtbare politische Symbole. Dr. Jürgen Auer, Landesgeschäftsführer der Lebenshilfe für Menschen mit geistigen Behinderungen, empfahl, dass in der Umsetzung verschiedene Ministerien mit eingebunden werden sollten, allen voran das Bayerische Staatsminis-
terium für Familie, Arbeit und Soziales, aber auch das Ministerium für Gesundheit und Pflege sowie das Staatministerium für Wohnen, Bau und Verkehr.

Zusammenarbeit mit privaten Investoren

Herbert Borucker, Referent Behindertenhilfe beim Deutschen Caritasverband des Landesverbandes Bayern e. V., betonte, dass Konversion statt einrichtungsorientiert viel mehr personenorientiert gedacht werden müsse. Auch Dr. Gertrud Hanslmeier-Prockl, Gesamtleitung des Einrichtungsverbundes Steinhöring und Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Attl, bezeichnete in diesem Zusammenhang die klassische 24er-Wohnheim-Einheitsnorm als einen „faulen Kompromiss“.

Sie entspreche weder den bekannten Wohnwünschen von Menschen mit Behinderungen und deren Rechten noch fachlichen wie wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hanslmeier-Prockl hob die Bedeutung der Zusammenarbeit mit privaten Investoren hervor, um den Bau kleinerer Wohngemeinschaften auf stadtnahen Baugrundstücken zu ermöglichen.

Förderkriterien in der Kritik

Holger Kiesel, Behindertenbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, unterstützte die Initiative, kleinere Wohneinheiten zu schaffen:

„Gerade Einrichtungen für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung müssten dringend in inklusive, kleinere Wohneinheiten umgewandelt werden.“

Als ersten Schritt regte er deshalb an, den konkreten Bedarf in diesem Bereich abzufragen. Thomas Bannasch, Geschäftsführer der LAG Selbsthilfe Bayern e.V., wies darauf hin, dass die bloße Bewohnerzahl bei der Entscheidung darüber, ob eine Einrichtung bei der Förderung berücksichtigt wird, nicht einzig maßgeblich sein dürfe.

Förderfähig müssten alle Einrichtungen sein und zwar unabhängig davon, ob sie Menschen mit geistigen, seelischen, Sinnes- oder körperlichen Behinderungen betreuen. Da alternative Wohnformen geschaffen werden müssten, empfahl er, eine neue Stelle zu etablieren. Diese könne die Koordination, Beratung und Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten und Einrichtungsträgern fördern.

Synergieeffekte nutzen

In der abschließenden Fragerunde appellierte Sylvia Stiersdorfer (CSU) an die Kommunen, bereits in der Stadtentwicklung die Konversion von Komplexeinrichtungen in den Blick zu nehmen. Dem pflichtete Matthias Enghuber (CSU) bei, vor allem wenn es um den Bau von Mehrgenerationenhäusern gehe, könnten Synergieeffekte genutzt werden. Die Anhörung beruht auf einem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

 

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