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(GZ-19-2018)
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► Minister Dr. Gerd Müller im Münchner Presseclub:

 

50 Sklaven für jeden von uns

 
Die dramatisch ungerechten globalen Lebensverhältnisse in unserer Welt nahm der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Dr. Gerd Müller, zum Anlass, um für seinen „Marshallplan mit Afrika“ zu werben. Gastgeber Peter Schmalz, Präsident des Münchner Presseclubs, bezeichnete Müllers Leistungen als „Herkulesaufgabe“. Zur Pressekonferenz waren auch Münchens Alt-Oberbürgermeister Christian Ude und seine Gattin, Edith von Welser-Ude gekommen. Mit beiden verwirklicht Müller gemeinsam Projekte in Afrika.
Peter Schmalz und Dr. Gerd Müller. r
Peter Schmalz und Dr. Gerd Müller. r
 

Noch ganz erfüllt von den Eindrücken einer Reise nach Israel, von der der Minister in der Nacht vor dem Pressetermin zurückkehrte, berichtete er über die vielfältigen Möglichkeiten, die die Israelis nutzen, um die Wüste zu begrünen. Israel verfügt über große Erfahrung bei den Themen Klimaresistenzforschung, Wassermanagement Meerwasserentsalzung und Agrophotovoltaik. Deshalb erhofft Müller eine gedeihliche Zusammenarbeit um Menschen in benachteiligten Regionen dabei zu unterstützen, Bleibeperspektiven in deren jeweiliger Heimat zu entwickeln.

Dramatische Lage im Gaza-Streifen

Als dramatisch bezeichnete Müller die Lage im Gaza-Streifen. Zwei Millionen Menschen leben dort „praktisch im Gefängnis“. Die Jugend ist nahezu komplett arbeitslos. Deutschland unterstütze konkrete Projekte des palästinensischen Flüchtlingshilfswerks zur Berufsausbildung mit 45 Millionen Euro. Der amerikanische Komplettausstieg „über Nacht“ mit 280 Millionen US Dollar führte jedoch zur Schließung Hunderter von Schulen.

Wir alle sind Teil der Ausbeutungskette

Wie beteiligt wir alle an den globalisierten Wirtschaftsströmen sind, verdeutlichte Müller am gewöhnlichen Tagesablauf eines Durchschnittseuropäers: Aufstehen, rasieren, Haare waschen, duschen ... Shampoo, Rasierschaum, Duschmittel Waschmittel, Lebensmittel ... in all diesen Pflegeprodukten steckt Palmöl aus Indonesien und Malaysia als Stabilisator. Dafür verbrennen die Regenwälder weil die Nachfrage nach diesem Produkt immer größer wird.

Die Frage „was geht mich das an?“ müsse sich jeder stellen. „Das ist die Globalisierung, die auch bei Ihnen ankommt“, sagte der Minister. „Und dann haben Sie eine schöne Tasse Kaffee, und haben nicht daran gedacht, dass Sie ein Teil der Ausbeutungskette sind“, mahnte Müller.

50 Eurocent für die Produzenten, 2,20 Euro für den deutschen Fiskus

Kaffee komme zu 80 bis 90 Prozent aus den Staaten an der westafrikanischen Küste. In München bezahle man für das Kilogramm Kaffee +/- zehn Euro. 50 Eurocent davon werden für die Bohnen ausgegeben. „Ist das gerecht? Ist das fair?“ fragte Müller in die Runde.

Schon eingangs hatte Schmalz auf das Buch von Minister Müller verwiesen „UNfair“ lautet der Titel, mit dem er für eine gerechte Globalisierung wirbt. 50 Cent pro Kilo gesteht man den Familien und ihren Kindern zu, Kindern, die arbeiten müssen und nicht zur Schule gehen dürfen. „Und jetzt kommt der Hammer“, so Müller; „auf jedem Kilo Kaffee sind 2,20 Euro Kaffeesteuer.“ Als Bürgermeister von Hamburg hatte Bundesfinanzminister Olaf Scholz einen Bundesratsantrag eingebracht, zumindest für den fairen Kaffee die Kaffeesteuer abzuschaffen. Als Finanzminister erinnert er sich daran nicht mehr. Für die Kleidung gilt das Gleiche. Egal, ob Jeans, Hose, Rock: In 95 Prozent jeglicher Kleidung – egal ob Billigware oder hochpreisig – finden wir ein Label „made in Bangladesch, Äthiopien, China“. 

Europäische Ausbeutung von Ressourcen und Menschen

In einer seriösen wissenschaftlichen Arbeit habe eine ausgewiesene Expertin nachgewiesen, dass ein ganz normaler Münchner in den ganzen Produktketten 50 Sklaven beschäftige. „Unser Wohlstand baut auf auf der Arbeit und der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen in fremden Regionen, insbesondere Afrika aber auch Indien.“

Weitere Beispiele: Das Handy! Es funktioniert nur mit Kobalt und Coltan aus den Minen des Kongos. Für die Produktion unserer Autos benötigt man Metalle, Aluminium, Kautschuk u.v.a.m. „Wir müssen diese Lieferketten gerechter gestalten, dann brauche ich keinen Euro für Entwicklungshilfe“, erläuterte der Minister.

Kein Erkenntnis- sondern ein Handlungsproblem

Auf Schmalz‘ Frage nach einem Bewusstsein für das schäbige Verhalten der Menschen in den reichen Ländern erwiderte Müller: „Wir haben kein Erkenntnisproblem darüber, was auf diesem Globus anders gestaltet werden muss in den Beziehungen der Völker und Staaten, sondern ein Handlungsproblem“. Er verglich die Situation „mit zwei Herzinfarkten“. Die brauche man, um die Bekämpfung von Übergewicht und gesünderes Leben vom Vorsatz in die Tat umzuwandeln. „Wir blenden bewusst aus. Was geht mich das an, wie es an der Elfenbeinküste zugeht, oder in Indonesien, damit habe ich nichts zu tun. Man verdrängt.“

Man sehe auch den Krieg im Jemen nicht und die 400.000 Kinder, die man retten könnte. Die sterben an Cholera, obwohl man die Durchfallerkrankung mit drei Tabletten stoppen könnte, erzählt Müller. „Lass mich in Ruhe, lass mir mein Leben, störe mich nicht“, sei eine häufige Argumentation. „Und ich störe ein bisschen Ihr Leben und auch das Leben in der Politik“, weiß er zu berichten. Ehrlicherweise sei es nur deshalb möglich, über diese Themen zu reden, „weil in München ein paar Afrikaner rumlaufen“. Tatsache sei jedoch, dass die Afrikaner unter den Flüchtlingen lediglich zehn Prozent ausmachen. Trotzdem war Müller vor wenigen Wochen in sieben afrikanischen Ländern. „Ich habe dort Himmel und Hölle gesehen“, schildert der Politiker. Der Kontinent – hundert Mal so groß wie Deutschland – sei gleichermaßen Krisen- und Chancenkontinent. Von München nach Jerusalem fliege man vier Stunden, von Kairo nach Kapstadt dauert es zehn Stunden.

Keine Pauschalbewertung

Mit einer Pauschalbewertung komme man nicht weiter. Es gibt künstlich gezogene Grenzen, die die Europäer im Rahmen von Bismarcks Berliner Afrika-Konferenz 1844 bis 1885 mit dem Lineal zogen. Müller stimmt mit Michael Wolfssohn überein, der eine föderale Struktur für diese Länder verlange. Allein in Nigeria gibt es 3.000 verschiedene Sprachen und Ethnien. In wenigen Jahren wird dieses Konglomerat das drittgrößte Land der Welt sein, obwohl es eigentlich kein „Land“ ist.

Über sensationelle Entwicklungen gebe es aus Äthiopien zu berichten. Niemand habe sich träumen lassen, was der unglaublich mutige neue Premierminister Abiy Ahmed in kurzer Zeit aus diesem Land gemacht hat. Schon in der zweiten Woche seiner Amtszeit ließ er 25.000 politische Gefangene frei und empfing deren Führer. Dafür entließ er den General-
stabschef, den Geheimdienstchef und den Polizeichef. Dann reiste er nach Eritrea und reichte dem Präsidenten die Hand zum Frieden – nach 30 schlimmen Jahren.

Die Eritreer sind nach den Nigerianern die größte afrikanische Gruppe, die nach Europa kommt. Müller besuchte auch den eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki, der sich selbst als Despot bezeichnet, in dessen ständigem Büro – einer einsamen Berghütte aus Blech, weitab von der Hauptstadt. Nach dem Friedensschluss mit dem bisherigen Erzfeind Äthiopien geht Müller auch am Horn von Afrika von einer Verbesserung der Lage aus. Der Deutsche bot jedenfalls seine Hilfe an.

Er erwartet hier gute Fortschritte für die Menschen, ebenso wie in Botswana, das er für ein großartiges Land hält. Ruanda und Tunesien sind Reformländer. Allein in Tunesien schuf die deutsche Wirtschaft in jüngster Zeit 60.000 Arbeitsplätze, z. B. im Bereich der Automobilzulieferer. Der VW Polo wird komplett in Ruanda gebaut. Die Entwicklung sei vergleichbar mit den Ländern Osteuropas vor 25 Jahren, wo deutsche und insbesondere auch bayerische Firmen investierten.

Viele positive Beispiele

Die guten Beispiele für gelungene Zusammenarbeit , um die Müller zu berichten weiß, sind nahezu unzählig. Trotzdem bleibt noch sehr viel zu tun. Gerade deshalb ist es so erfreulich, dass sich in jüngster Zeit vermehrt die deutschen – und auch hier wieder die bayerischen – Kommunen in zahlreiche und vielfältige Partnerschaftsprojekte einbringen. In diese Zusammenarbeit setzt der Minister große Hoffnung; sind es doch die Vertreterinnen und Vertreter aus den Städten und Gemeinden, die am besten in der Lage sind, ihrerseits die Menschen für weiteres Engagement für den Masterplan mit Afrika zu gewinnen. Nicht zuletzt aus diesem Grund nahmen auch der Münchner Alt-OB Christian Ude und seine Frau, Edith von Welser-Ude, an diesem Pressegespräch teil. Familie Ude ist auch privat seit vielen Jahren in diesem Thema engagiert. Mit ihnen plant Müller derzeit ein konkretes Projekt.

Buchtipp

UNfair! Für eine gerechte Globalisierung. Gebundenes Buch – erschienen im Juni 2017, 192 Seiten, ISBN: 9783867745796, EUR 19,90.

HA

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