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(GZ-19-2022)
Gastbeiträge

► Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene e.V.:

 

Pandemiemanagement – Strategiewechsel notwendig und überfällig

 

Von Peter Walger, Gerd Antes, Martin Exner, Klaus Stöhr, Walter Popp, Christof Alefelder, Matthias Schrappe, Ursel Heudorf, Günter Kampf, Johannes Hübner, Tobias Tenenbaum, Andrea Knipp-Selke, Andreas Radbruch

Natürliche Infektion und Impfung haben zu einer breiten Immunität in der Bevölkerung geführt Künftig sind Identifikation der tatsächlich Vulnerablen und Priorisierung auf deren Schutz essentiell.

Deutschland befindet sich wie das übrige Europa und die restliche Welt derzeit im Übergang in die endemisch-epidemische Phase der SARS-CoV-2-Pandemie. Die derzeit dominierenden Virusvarianten (Omikron BA4 und BA5) zeichnen sich durch eine sehr hohe Ansteckungsfähigkeit bei gleichzeitig sehr geringer Krankheitslast aus. Selbst bei den als besonders vulnerabel geltenden hochbetagten Bewohnern von Altenpflegeheimen haben unter der Omikron-Variante und nach der Impfkampagne Krankheitsschwere und Hospitalisierungsrate deutlich abgenommen; die Sterblichkeit im Vergleich zu 2020 sogar um mehr als 90%.

Die derzeit dominierenden Varianten haben bei den Geimpften und Genesenen zu einer deutlichen Zunahme der Infektionen geführt mit z.T. klinischen Zeichen eines grippalen Infektes, ohne dass dies mit einer spürbaren Überlastung des Gesundheitswesens und der kritischen Infrastruktur verbunden gewesen wäre. Die wenigen Fälle berichteter Überlastungen waren keine Folge erhöhter Inanspruchnahme intensivmedizinischer Ressourcen, sondern die Konsequenz von Isolierungsmaßnahmen für das Personal, die unabhängig von einer etwaigen Symptomatik angeordnet wurden.

De facto hat die Zunahme der Omikron-Infektionen insbesondere durch BA-5 zu einer Verbesserung des Schutzes vor schweren Infektionen oder Tod durch SARS-CoV-2 in der Bevölkerung geführt. Die Antikörperprävalenz durch Impfung und natürliche Infektion (Genesenenstatus) liegt bei etwa 95%.

Das zeigen internationale Seroprävalenzstudien und nationale Stichproben gleichermaßen und gilt für alle Altersgruppen, Kinder eingeschlossen.

Die Grundprinzipien des Pandemiemanagements

Ein erfolgreiches Pandemiemanagement bei SARS- CoV-2 muss nach dem ECDC1 folgende Aspekte berücksichtigen:

1. Eigenschaften des SARS-CoV-2: Evolution, Wachstumsrate, Krankheitsschwere (intrinsisch), Saisonabhängigkeit.

2. Immunologie: Immunschutz vor schweren Verläufen, Dauer des Schutzes.

3. Gesellschaftliche Faktoren: Gesellschaftliche Toleranz für nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI) und Maßnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle (IPC) wie z.B. Hygienemaßnahmen, gesellschaftliche Toleranz gegenüber den Restrisiken von COVID-19, Akzeptanz der Impfung, Kapazitäten des Gesundheitssystems.

4. Medizinisch-immunologische und therapeutische Eingriffe: Impfstoffe, Antivirale Medikamente, Diagnostik.

Demzufolge müssen das Pandemiemanagement und der notwendige Strategiewechsel bei der konkreten Vorbereitung auf die zu erwartende Herbst/Winterwelle durch vermehrte SARS-CoV-2-Infektionen folgende Grundvoraussetzungen berücksichtigen:

1. Eine SARS-CoV-2-Impfung mit einem parenteralen Impfstoff schützt nicht zuverlässig vor Infektionen und Infektiosität. Auch wiederholte Booster-Impfungen erhöhen den Schutz vor Infektion nur marginal und temporär – und das zunehmend immer weniger. Geimpfte und Geboosterte können das Virus auch weiterhin übertragen.

2. Eine vollständige SARS-CoV-2-Impfung schützt in den allermeisten Fällen vor schwerem COVID-19 Verlauf (Intensivaufenthalt, Beatmung) und Tod und dann auch über Zeiträume von mehr als einem Jahr, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte.

3. Der Schutz vor Infektion und Infektiosität ist am wirkungsvollsten bei Hybridimmunisierung durch Infektion und Impfung. Dieser Schutz währt deutlich länger (12 Monate oder länger) und ist auch immunologisch breiter, wirkt also effektiver gegen Varianten als dies nur durch eine Impfung der Fall wäre. Da es kurzfristig keine Impfstoffe geben wird, die einen ähnlich effektiven Schutz der Schleimhäute vor Infektion induzieren, wird die Pandemie eher durch das Virus selbst beendet werden. Mit den gegenwärtig verfügbaren Impfstoffen lassen sich allerdings die Krankheitslast durch Erstinfektionen und schwere Krankheitsverläufe deutlich reduzieren.

4. Der Immunstatus der Bevölkerung wird nur durch die gleichzeitige Erfassung und Berücksichtigung von Impfstatus und Genesenenstatus korrekt wiedergegeben. Der Genesenenstatus, d.h. die Immunität nach einer durchgemachten Infektion, ist eine zentrale Komponente des generellen Immunschutzes der Bevölkerung. Ungeimpfte oder Teilgeimpfte per se als vulnerable Bevölkerungsgruppe einzuordnen, vernachlässigt die unterschiedlichen Erkrankungsrisiken in den jeweiligen Altersgruppen und ist ohne Berücksichtigung des Genesenenstatus nicht sinnvoll. Dabei sind die neutralisierenden IgG Antikörper im Blut weder ein Korrelat für „Schutz vor schwerer Krankheit“ (das wären alle Antikörper gegen das Virus) noch für „Schutz vor Infektion“ (das wären neutralisierende Antikörper auf den Schleimhäuten der Atemwege). Erfasst werden müssten alle Antikörper gegen das Spikeprotein als Korrelat einer Impfung oder Infektion sowie alle Antikörper gegen das Nukleokapsidprotein des Virus als Korrelat einer Virusinfektion.

5. Die Menge der Antikörper im Blut Antikörpertiter) korreliert nicht direkt mit dem Grad der Immunität. Von entscheidender Bedeutung ist auch die Qualität der Antikörper, z.B. ihre Avidität für das Antigen (Stärke der Antigen-Antikörper-Bindung), ihre Klasse (Funktion) und in Bezug auf mögliche schwere Erkrankungen auch der durch die zelluläre Immunität vermittelte Schutz. Impfempfehlungen für Einzelpersonen sollten deshalb nicht nur aus der Menge der Antikörper abgeleitet werden.

6. Vulnerabel im Sinne eines erhöhten Erkrankungs- oder Sterberisikos sind Personen,

a. die weder genesen noch geimpft sind und gleichzeitig bestimmte Risikofaktoren haben, z.B. eine erworbene Immundefizienz durch Autoantikörper gegen Interferone, letzteres mit einer Prävalenz von etwa 4% bei über 70Jährigen.

b. die zwar geimpft sind, aber wegen einer Immundefizienz oder therapeutischen Immunsuppression (etwa Transplantatempfänger sowie Patienten mit Autoimmunerkrankungen oder Tumoren) keine ausreichende Immunantwort entwickeln

c. oder die aufgrund hohen Alters (> 80 Jahre) immunologisch langsamer reagieren.

7. Diagnostische Verfahren zur Prognose eines schweren Krankheitsverlaufes, z.B. Messung der Autoantikörper gegen Interferone, sollten in die Routinediagnostik einbezogen werden.

8.Für vulnerable Personen sollten schnellstens spezielle Impfempfehlungen angepasst, weiterentwickelt und wissenschaftlich begründet werden, da sich die Risikosituation mit dem Übergang zur Endemie grundlegend verändert hat. Es ist die Aufgabe der STIKO, die Konsequenzen aus der sich dynamisch ändernden Definition von Vulnerabilität und der damit verbundenen Impfindikationen zu analysieren, um daraus konkrete Impfempfehlungen für konkrete Risikogruppen zu formulieren.

Auch zukünftige antivirale Therapien, die im Sinne der Prävention eines schweren Verlaufs oder des Todes durch COVID-19 einzusetzen sind, müssen sich an den Kriterien für Vulnerabilität orientieren.

9. Zukünftige Impfstoffe sollten auch die Verhinderung einer Infektion und die Verringerung des Übertragungsrisikos zum Ziel haben. Die immunologische Barriere der respiratorischen Schleimhäute wird durch die aktuellen Impfstoffe nicht ausreichend beeinflusst.

10. Schutz der Vulnerablen durch fokussierte, gezielte Impf- und Boosterkampagnen (nach STIKO-Empfehlung) sowie Hygienemaßnahmen in Krankenhäusern und Pflegebereichen, die sich einer verändernden Infektionssituation anpassen. Auf eine Balance zwischen Infektionsschutz auf der einen sowie Selbstbestimmung und Lebensqualität auf der anderen Seite muss geachtet werden.

11. Die Impfpflicht für Bedienstete im Gesundheitswesen sollte aufgehoben werden, sie bietet keinen Schutz vor Infektiosität.

12. Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) und des Gesundheitswesens durch Wegfall nicht verhältnismäßiger und nicht begründbarer d. h. nicht mehr zeitgemäßer Isolierungsanordnungen gesunder Infizierter. Unter den derzeitigen Gegebenheiten sollten strikte behördliche Isolierungsanordnungen für gesunde Infizierte kritisch hinterfragt und durch eine vor Ort zu erfolgende Risikobeurteilung durch Hygienefachpersonal ersetzt werden. Dazu gehört auch eine eigenverantwortliche Symptomkontrolle.

13. Priorisierung und Ressourcenschonung auch bei der Teststrategie: PCR-Tests dürfen nur zielgerichtet im Bereich der medizinischen Versorgungsstrukturen und zur Diagnostik von Erkrankungen einsetzt werden, wenn sich daraus ein therapeutischer Vorteil ergibt. Es gibt aktuell keine generelle Indikation mehr für anlassloses Screening.

14. Kinder und Jugendliche sind keine vulnerable Personengruppe. Mutmaßlich ansteigende Infektionszahlen treffen hier im Herbst auf eine in hohem Maße immunisierte Altersgruppe, deren Immunität zudem noch um ein Vielfaches robuster ist als die der erwachsenen Bevölkerung. Gleichzeitig zeigen die vorliegenden Daten, dass in der Vergangenheit die Fokussierung zahlreicher pandemischer Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche (anlasslose Routine-Testungen, Maskenpflicht im Unterricht, Einschränkung von Sport- und Freizeitangeboten) deren überwiegend natürliche Immunisierung nicht verhindern konnte, gleichzeitig, aber zahlreiche Kollateralschäden hervorrief, deren langfristige Konsequenzen für diese Altersgruppe zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind bzw. nur eingeschränkt beurteilt werden können. Da diese Altersgruppe darüber hinaus nur ein sehr geringes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf trägt, sind anlasslose Routinetestungen und eine Maskenpflicht in Schulen ohne Indikation abzulehnen. Neue restriktive Schul- oder Kita-Regeln dürfen nur mit einer absehbaren, signifikanten Belastung des Gesundheitswesens begründet werden. Infektionsschutz in Schulen und Kitas darf nicht mit Fremdschutz gerechtfertigt werden.

15. Es muss eine repräsentative Bevölkerungs-Kohorte etabliert werden, die regelmäßig und zeitnah untersucht und befragt wird.

16. Hygienestrategien (NPI) müssen angepasst werden. Die Bedeutung der Luftverdriftung muss besser abgeklärt und in großen Versammlungsräumen berücksichtigt werden. Dies ist auch eine Forderung der EU.

Die Kommunikation des Pandemie-Strategiewechsels ist überfällig

17. Die Politik muss die o.g. Erkenntnisse transparent kommunizieren und einen klaren Strategiewechsel mit Fokussierung auf den Schutz vulnerabler Gruppen einleiten und dabei gleichzeitig die Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastruktur und des Gesundheitswesens sicherstellen. Das schließt das definitive Ende der Kontaktpersonennachverfolgung ein.

18. Der Strategiewechsel ist bereits im Pandemieplan 2020 vorgesehen, die Kriterien sind definiert. Nach der initialen Phase des Containments mit dem Ziel der Vermeidung jeder Infektion folgen die Phasen der Protection, d.h. Schutz vor schweren Erkrankungen und Tod, und der Mitigation, d.h. die Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen (nicht vor Infektion auf Dauer!) bei zusätzlicher Vermeidung von Krankheitsspitzen, die zur Überlastung der Versorgungsstrukturen führen. Der Wechsel hin zu einer Folgenminderungs-Strategie ist weiterhin überfällig.

Andere Länder praktizieren das bereits erfolgreich. So haben etwa Großbritannien, Dänemark, die Niederlande und die Schweiz angesichts der Immunitätslage der Bevölkerung und der stattgehabten massenhaften natürlichen Infektionen durch die hochinfektiösen aber nur wenig schwere Erkrankungen verursachenden Omikron-Varianten das Ende der Pandemie erklärt.

In Deutschland hingegen dominieren in den zentralen Stellungnahmen immer noch die Konzepte und Einschätzungen der ersten Phase des Containments. Zwar ist vielerorts in der Praxis bereits ein Strategiewechsel erfolgt. Dieser aber wird weder transparent begründet noch offen kommuniziert. Die Debatte um die zukünftige Strategie des Pandemiemanagements bedarf der Einbeziehung von Experten aus Infektiologie, Hygiene, praktischem Infektionsschutz, Epidemiologie, Datenwissenschaft und Immunologie.

Die derzeitige Art der nichtmotivierenden und Angst erzeugenden Kommunikation führt nicht nur dazu, dass irrationale Infektionsängste, Depressionen und inadäquate soziale Rückzugstendenzen fortbestehen, sondern verstärkt auch eine oppositionelle Grundstimmung in Teilen der Bevölkerung mit zum Teil aggressiver Ablehnung jeglichen staatlichen Infektionsschutzes und einer Zunahme von Impfgegnerschaft.

Die aktuelle ministerielle Kommunikation zum Pandemiemanagement ist nicht nur erratisch, sprunghaft und Angst erzeugend, sondern überbetont noch nicht ausreichend erforschte Konsequenzen einer COVID 19 Infektion wie Demenz, Hirnschäden und Long Covid als Langzeitschäden. Sie bedarf einer kritischen Überprüfung mit hoher methodischer Kompetenz unter Berücksichtigung etablierter Aspekte der Risikokommunikation.

Quelle und Literaturverzeichnis: https://www.krankenhaushygiene.de/informationen/911

Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene e.V.

 

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