(GZ-17-2022) |
► Krisen schlagen aufs Gemüt: |
Kids, die nicht mehr leben wollen |
Nachfrage nach Kinder -und Jugendpsychiatrie schnellt in Unterfranken in die Höhe |
Da hockte sie während des Lockdowns in ihrem Zimmer, vielleicht im Erdgeschoss eines anonymen Mietshauses, und versuchte, die Zeit totzuschlagen. Monatelang war Caroline (Name geändert) allein. Die Mutter arbeitete. Einen Vater gab es nicht. Und es gab auch keine Freundin. „Das Mädchen wurde depressiv“, berichtet Marcel Romanos, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg. Weil es ihr immer schlechter ging, kam die Zwölfjährige zu ihm in Behandlung.
Caroline ist kein Einzelfall. Laut der Ende Mai veröffentlichten Analyse aktueller Krankenhausdaten der DAK-Gesundheit ist der Anteil der 10- bis 14-Jährigen mit einer stationär behandelten depressiven Episode 2021 gegenüber dem Vorjahr um 27 Prozent gestiegen. Mädchen waren dabei etwa fünfmal so häufig betroffen wie Jungs. „Auch wir sehen gerade sehr kranke und sehr belastete junge Menschen“, bestätigt Romanos. Zwischen Januar und Mai 2022 wurden 226 Kinder und Jugendliche in der geschlossenen Abteilung seiner Klinik aufgenommen. Die allermeisten kamen deshalb, weil sie suizidgefährdet waren.
Depression durch monatelanges Alleinsein
Die Krisen schlagen aufs Gemüt. Wobei laut Romanos kein Kind in die Klinik kommt und sagt: „Mein Problem ist die Corona-Situation.“ Oder: „Der Krieg macht mich depressiv.“ Vielmehr sei es so, dass ohnehin belastete Kinder nun so stark unter Stress geraten, dass sie ernsthaft psychisch erkranken. Caroline zum Beispiel, die vor einigen Wochen entlassen wurde, ist seit jeher äußerst schüchtern. Stets tat sie sich schwer, sich in eine Gruppe zu integrieren. Solange sie noch zur Schule gehen konnte, war dies kein bedrohliches Problem. Das monatelange Alleinsein verkraftete das Mädchen jedoch nicht mehr. So entwickelte sich schließlich eine schwere Depression.
Romanos und seine Kollegen interessiert sehr, warum gerade jetzt so viele Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Problemen in die niedergelassenen Praxen, in die Ambulanzen der Kliniken und auf die Intensivstation kommen. Noch stehen eindeutige Antworten aus. Außerdem bleibt die Entwicklung in den kommenden Monaten abzuwarten. Setzt sich der Trend in Würzburg fort, würde die Intensivstation 2022 von knapp 550 jungen Patienten in Anspruch genommen. Das wären nahezu zehn Prozent mehr im Vergleich zu jenen Jahren mit der bisherigen Höchstauslastung.
Nun ist die Nachfrage gestiegen, das Platzangebot hingegen wegen der Hygienevorschiften etwas geschrumpft. Zudem können derzeit nicht alle Pflegestellen besetzt werden. Von den eingesetzten Pflegekräfte sind immer wieder welche erkrankt.
Langfristige Effekte der Maßnahmen
Inzwischen hat die Politik den Kindern wieder ein weitgehend normales Leben zugestanden, doch diese Normalisierungsbemühungen sind noch nicht von Erfolg gekrönt. „Es kann sein, dass allmählich die langfristigen Effekte der Pandemie bei uns auftauchen“, mutmaßt Romanos. Neben Kindern mit Depressionen sieht der Kinder- und Jugendpsychiater aktuell auch viele Mädchen mit Essstörungen. Gerade Magersucht sei manchmal eine Folge dessen, dass die Jugendlichen während der Zeit des Lockdowns viel zu eng in ihre Familien eingebunden waren. Dabei bräuchten Teenager Freiheiten, um sich ihrem Alter gemäß entwickeln zu können.
Vielleicht wäre es den Kindern und Jugendlichen nach den Lockerungen ab Mai besser gegangen, wäre die Situation nicht auch noch durch einen Krieg überschattet. Wie stark der Krieg die Jungen und Mädchen belastet, liegt laut Romanos entscheidend daran, wie ihre Eltern auf den Krieg reagieren. „Es scheint Eltern zu geben, die damit begonnen haben, einen Bunker in ihrem Garten zu graben“, sagt er. Sie haben offenbar große Angst, dass der Krieg früher oder später auch Deutschland erreicht: „Obwohl es dazu aktuell keine konkreten Hinweise gibt.“ Solche Ängste übertragen sich natürlich leicht auf Kinder.
Armut ein weiterer bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Krankheiten bei Kindern. Darauf macht Romanos seit vielen Jahren aufmerksam. Mit dem 1998 gegründeten Förderverein „Menschenskinder“, dem er vorsitzt, versucht er deshalb, armen Familien mit psychisch kranken Kindern zu helfen.
Pat Christ
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