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(GZ-9-2021)
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► Vereinsleben:

 

Raus aus dem Schneckenhaus!

Im Kreis Miltenberg werden Bürger per Zufallsauswahl zum Mitmachen motiviert

 

Vereine klagen inzwischen über einen merklichen Rückgang an Ehrenamtlichen. Was nicht verwundert. Das Vereinsleben liegt im Moment brach. „Die Menschen neuerlich zum Mitmachen zu motivieren, ist schwierig“, sagt Jürgen Reinhard, Bürgermeister von Niedernberg. Bei der Veranstaltung „Open-Sozial“ der KAB am 12. Juni im Elsavapark Elsenfeld soll neue Motivation geweckt werden. Und zwar auf ungewöhnliche Weise: Die Gemeinden laden zufällig ausgewählte Bürger zum Mitmachen ein.

Wer sich im Landkreis Miltenberg engagieren möchte, hat die Qual der Wahl. In Niedernberg zum Beispiel kann man sich beim Roten Kreuz, dem Frauenbund oder im Verein „Kinderreich“ engagieren. In Obernburg setzen sich Ehrenamtliche laut Bürgermeister Dietmar Fieger bei den Ferienspielen, im Seniorenbeirat und im Nachbarschaftshilfeprojekt „Tatsachen“ ein.
„Auch wir in Eschau haben ein breites Engagement“, so Bürgermeister Gerhard Rüth. Doch sicher gebe es soziale Felder, die noch nicht beackert sind.

Studien zufolge sind Bürger, die auf der gesellschaftlichen Stufenleiter eher unten stehen, weniger aktiv als Angehörige der Mittelschicht. Auch Menschen mit Migrationshintergrund, in deren Herkunftsland es nicht das gibt, was wir mit „Ehrenamt“ meinen, sind oft geringer engagiert. Gerade deshalb sei die Idee einer Zufallsauswahl so gut, lobt Wolfgang Fecher, Präsident des Niedernberger Carnevalvereins:

„Dadurch erreicht man auch mal andere, man fühlt sich geehrt und informiert sich auf jeden Fall.“ Sollte er ausgewählt werden, würde er ganz bestimmt zur „Open-Sozial“ gehen. Ob er sich danach aktiv beteiligen wird, das hänge von den konkreten Projektideen ab.

Selbstverständliches Engagement

Früher engagierten sich Menschen oft aus einem Pflichtgefühl heraus: Es war etwa selbstverständlich, zu ministrieren. War doch schon der Vater Ministrant. „Heute führen der Spaß am Tun oder persönliches Interesse ins Ehrenamt“, sagt Niedernbergs Bürgermeister Jürgen Reinhard.

Aus Interesse landete er selbst zum Beispiel bei den Pfadfindern. Im Gegensatz zu früher, ergänzt Wolfgang Fecher, sei Ehrenamt heute jedoch auch schwieriger geworden: „Früher durfte ein Vereinsvorstand einfach mal machen.“ Heute müsse er an Datenschutz denken, ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und Ordner voll Akten lesen: „In denen steht, für was er alles haftbar ist.“

Ohne Freiwillige müsste der Staat tief in die Tasche greifen – wobei das, was Volunteers tun, letztlich nicht in Geld aufzuwiegen ist. „Bürgerschaftliches Engagement ist vor allem deswegen wichtig, weil es in Bereichen tätig ist, in die wir als Gemeinde nicht hinkommen“, sagt Bürgermeister Dietmar Fieger. Ohne ehrenamtlichen Einsatz, ergänzt sein Mönchberger Amtskollege Thomas Zöller, gäbe es manches nicht mehr. Dass beispielsweise das Mönchberger Spessartbad noch existiert, sei vor allem dem Förderverein zu verdanken.

Durch das ungewohnte „Motivationsverfahren“ der KAB öffnen sich völlig neue Wege, Bürger zur Beteiligung zu bringen. „Ich finde das einen guten Ansatz“, sagt Nadine Faber, Vorstand des Neunkirchener Vereins „The Rising Lions“. Sie selbst würde allerdings kaum mitmachen, würde sie ausgewählt:„Da ich nach Arbeit, Familie und unseren eigenen Vereinsprojekten keine Kapazitäten mehr habe.“

Nach ihren Erfahrungen engagieren sich Menschen vor allem dann, wenn ihnen klar wird, wie gut es ihnen geht. Dann wachse der Wunsch, einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Ob sich Menschen für den Umweltschutz einsetzen, für soziale Projekte vor Ort oder die Eine Welt, spielt laut Nadine Faber keine Rolle. Hauptsache, man tut irgendetwas.

Laut Wolfgang Fecher wird soziales Engagement sogar immer wichtiger. Jetzt, wo sich bei sinkenden öffentlichen Einnahmen die Frage stellen werde, was noch finanzierbar ist, würden Bürger selbst wohl wieder vermehrt soziale Leistungen übernehmen müssen.

Zusammen über ein Problem nachzudenken und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, das macht Spaß. Doris Blaschke tut dies seit langem im Niedernberger Geschichtsverein. Die Idee, Bürger durch zufällige Auswahl zu Engagement zu motivieren, findet auch sie gut. „Manchmal trauen sich Menschen einfach nicht aus ihrem Schneckenhaus, weil sie glauben, dass sie nicht wirklich etwas zur Gemeinschaft beitragen können“, sagt sie. Dabei könne jeder etwas für andere tun. Würde sie zufällig für die „Open-Sozial“ ausgewählt, würde sie auf jeden Fall mitmachen.

Nachwuchsgewinnung wichtigstes Ziel

In jüngster Zeit vermochte es Blaschkes Geschichtsverein, Menschen zu überzeugen, sich einzubringen. „Zuvor hatten wir in einer Sondersitzung besprochen, dass wir die Nachwuchsgewinnung als wichtigstes Ziel in Angriff nehmen“, erzählt Blaschke. Obwohl ihr Verein selbst Freiwillige sucht, empfindet die Vorsitzende die „Open-Sozial“ nicht als Konkurrenz:

„Ich denke, das gegenseitige Vernetzen ist eine sehr wichtige Ressource, die sicherlich zu Synergien führen wird.“ Im Übrigen arbeitete ihre Organisation schon einmal mit der KAB in Niedernberg zusammen: „Dabei waren auch Menschen mit Migrationshintergrund einbezogen.“

Das Auswahlverfahren für die „Open-Sozial“ ist vom Modellprojekt „Bürgerrat Demokratie“ inspiriert. 160 Bürger, die per Zufallswahl ermittelt wurden, erarbeiten 2019 in Leipzig Empfehlungen für die Politik zur Stärkung der Demokratie.

Bertold S. (Name geändert) aus dem Landkreis Miltenberg hält den Einsatz für mehr Basisdemokratie für sehr wichtig.

„Denn wer sitzt denn im Bundestag?“, fragt der 61-Jährige, der per Zufall für die „Open-Sozial“ ausgewählt wurde. Rechtsanwälte seien überproportional vertreten: „Der kleine Mann hingegen hat nichts mehr zu melden.“ Die „Open-Sozial“ ist für Bertold S. eine Möglichkeit, die Demokratie vor Ort zu stärken.Engagement erlebte der Frührenter bisher meist als Win-Win-Situation. „Dadurch lernt man die verschiedensten Menschen kennen“, sagt er. Auf der „Open-Sozial“ würde er gerne Mitstreiter für ein Thema finden, das er als eines der größten Problematiken dieser Tage ansieht:

„Es gibt auch bei uns im Landkreis zu wenig bezahlbaren Wohnraum.“ Ob er sich nach der „Open-Sozial“ für dieses Thema konkret engagieren wird, hänge davon ab, ob er „gute“ Mitstreiter findet.

Pat Christ

 

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