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(GZ-21-2022)
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► Leerstandskonferenz „Jemand daheim“ in Kolbermoor:

 

Unsichtbarer Leerstand als Potenzial

Wie kann leerstehender Wohnraum in Einfamilienhäusern intelligent reaktiviert werden? Die Leerstandskonferenz „Jemand daheim?“ nahm Ende September halbleere Einfamilienhäuser ins Visier und präsentierte nach dreitägigem Ideenmarathon mit Vorträgen, Workshops und vier Exkursionen zukunftsweisende Lösungsansätze. Die rund 160 Teilnehmer kamen aus den Disziplinen Architektur, Stadt- und Regionalplanung, Soziologie, Wirtschaft, Landschaftsarchitektur, aber auch aus Rathäusern und… Einfamilienhäusern.

Mit der Belebung brach liegenden Wohnraums befasste sich die Leerstandskonferenz in Kolbermoor. Bild: Julia Schaefer
Mit der Belebung brach liegenden Wohnraums befasste sich die Leerstandskonferenz in Kolbermoor. Bild: Julia Schaefer

„Wenn man als Bürgermeister zum Geburtstagsgratulieren zu Seniorinnen und Senioren nach Hause kommt, steht oft das Krankenbett im Wohnzimmer und die Staubschicht auf den Treppen ist hoch, weil schon lange niemand mehr in das Obergeschoss gegangen ist. Die älteren Leute leben oftmals allein in den großen Häusern und können sich nur mehr schwer um die Immobilie und den Garten kümmern. Und gleichzeitig wissen wir nicht, wohin mit den jungen Familien, die Wohnraum suchen“, erklärt Bürgermeister Peter Kloo aus Kolbermoor Wohnrealität und Problemstellung. „Einfamilienhäuser werden immer mehr zu Keinfamilienhäusern.“

Was also tun, außer den unsichtbaren Leerstand mit einer Konferenz sichtbar zu machen? Auf jeden Bürger und jede Bürgerin in Deutschland entfallen laut Tina Krammer, Professorin an der IU Internationalen Hochschule, rund 460 Tonnen Baustoffe, die meisten davon verbaut in Wohngebäuden. Der gesamte Gebäudebestand ist in den Augen der Spezialistin für Re-Use wie ein riesiges Rohstofflager mit rund 15 Milliarden Tonnen Material. Dennoch würden jährlich 500 Millionen Tonnen neue Baustoffe verbraucht. Was, wenn man stattdessen Altes bewahren, mit neuem kombinieren und damit etwas Unverwechselbares schaffen würde?

Mit langem Atem und einer großen Vision auf Privatinitiative der ortsansässigen Familie Finsterwalder ist dort auf einem leerstehenden Industrieareal die Landlmühle, ein nutzungsdurchmischtes und lebendiges kleines Dorf zum Wohnen, Arbeiten, Produzieren und Einkaufen entstanden. Auch der Tagungsort selbst, die Alte Spinnerei in Kolbermoor (ein Projekt der Quest Baukultur GmbH), umrahmt die Veranstaltung wie ein Plädoyer für Transformation und nachhaltige Lebensraumgestaltung.

Anders Bauen gegen Flächenfraß

Alternative Wohnmodelle und Wohnformen können spannend sein und spielen eine entscheidende Rolle in der Zukunftsgestaltung. Das wurde den Teilnehmenden der Leerstandskonferenz auf vier Exkursionen zu innovativen Wohnprojekten in Weyarn, Münsing, Bad Aibling und Bad Feilnbach klar.

Statt mehrerer, freistehender Einfamilienhäuser wurden beispielsweise in Münsing zwei große, an die Dimension von Bauernhöfen angelehnte Häuser, mit unterschiedlichen Wohnräumen unter einem gemeinsamen Dach geschaffen. Neue Wohnqualität ist dort entstanden, durch eine spannende Mischung der Formen Einfamilienhaus, Reihenhaus und Geschosswohnung. Das nicht verbaute, restliche Grundstück blieb buchstäblich Freiraum, der gemeinschaftlich genutzt wird. „Ein Hybrid-Wohn-Haus-Modell zum Vervielfachen für Kommunen, mit dem ein neuer Typus fürs Wohnen geschaffen wurde, für den es noch keinen richtigen Namen gibt“, sagt Gruber. In der Großregion zwischen München und Salzburg, mit ihren sehr hohen Grundstückspreisen, liege viel Potenzial für solche neuen Wohnformen.

Teilen und Tauschen

Daniel Fuhrhop, Autor des Bestsellers „Verbietet das Bauen“, präsentierte in seinem Beitrag zur Konferenz die Ergebnisse seiner Dissertation. Er wies darauf hin, dass in Deutschland derzeit rund neun Millionen großer Wohnungen (mit Wohnraum von 80 bis 100 Quadratmetern) von Ein- oder Zweipersonenhaushalten genutzt werden. In der Theorie entspräche die Summe dieser Wohnflächen einem Potential von Wohnraum für zusätzlich rund 20 Millionen Menschen. Was, wenn nur zehn Prozent dieses „unsichtbaren Leerstands“ aktiviert werden könnten? Eine bedenkenswerte Alternative zum Neubau, findet Fuhrhop und zeigte im Vortrag verschiede Szenarien zur effektiveren Nutzung bestehenden Wohnraums auf. Beispiel Homesharing: Bei dieser Form des Teilens, ziehen junge Menschen mit älteren zusammen. Beide Seiten, Wohnungssuchende und Personen mit zu viel Wohnraum, profitieren. Aus dem eigenen Haus oder der großen Wohnung ausziehen und trotzdem in der gewohnten Umgebung bleiben? Das Projekt Bremer Punkt zeigt, wie der Schritt Senioren und Seniorinnen leichter gelingt: Im Quartier oder der Siedlung wird ein sogenanntes Auszugshaus errichtet. Wem die Arbeit in Haus und Garten über den Kopf wächst, zieht dort ein. So bleibt die Nachbarschaft zusammen, bereichert zum Beispiel um junge Familien, die die freigewordenen alten Häuser nachnutzen.

Lösungen für mehr Lebensqualität

Fazit der Konferenz: Viele der gezeigten Umbau- und Leerstandslösungen bringen höhere Lebensqualität und sind obendrein gut für den Klimaschutz. Ein volles Einfamilienhaus schafft ein Mehr an Nachbarschaft, ein nutzungsdurchmischtes Quartier kürzere Arbeits- und Alltagswege. Jetzt ist eine kluge Planung gefragt, denn das Projektieren von Umbaumaßnahmen ist anders als Neubauplanung auf der grünen Wiese. Es erfordert mehr Fachkompetenz und eine intensivere Beschäftigung mit der Aufgabe und der Nachbarschaft. Hochglanz-Architekturen könnten bald von einer neuen Ästhetik des Re-Use und der partizipativen Planungsmethodik abgelöst werden.

In der Alten Spinnerei wurde klar: Es braucht viel mehr Experimente, damit Vorzeige-Projekte, wie die in Weyarn, Bad Aibling, Münsing und Bad Feilnbach, weitergedacht werden können. Dazu werden neue Förderprogramme, auch für gemeinschaftliches Wohnen, wie sie das österreichische Bundesland Kärnten vor kurzem eingeführt hat, nötig werden. Und dann ist auch bald wieder im Einfamilienhaus „Jemand daheim!“

Stimmen von der Leerstandskonferenz 2022

  • „Das Einfamilienhaus ist ein Auslaufmodell, das Einheimischenmodell ist gestorben“ (Bürgermeister Simon Hausstetter, Rohrdorf)
  • „Der Abriss der alten Häuser, um etwas Neues zu errichten, sollte in Zukunft der Ausnahmefall sein.“ (Bürgermeister Anton Wallner, Bad Feilnbach und Vorsitzender der LEADER Region Mangfalltal-Inntal)
  • „Mein Einfamilienhaus hat für eine gewisse Lebensphase gut gepasst, aber jetzt bin ich in eine Wohnung gezogen und das Haus wird von anderen Menschen neu genutzt.“ (Bürgermeister Georg Weigl, Tuntenhausen)
  • „Wir müssen wieder mehrere Generationen unter ein Dach bringen“, findet Bürgermeister Kloo aus Kolbermoor und geht mit gutem Beispiel voran: In seinem Haus wohnen vier Generationen. „Die Teilbarkeit von Häusern sollte in Zukunft in den Bebauungsplänen vorgeschrieben sein.“
  • Michael Pelzer, Altbürgermeister von Weyarn und Vorsitzender der LEADER Region Miesbacher Land: „Die Konferenz hat den Teilnehmenden Inspiration und Anleitung gegeben, um ins Tun zu kommen. Wir brauchen neue Visionäre und eine kreative Umbaukultur, denn das Vorhandene wird das Neue!“

Alle Vorträge und Diskussionen wurden filmisch aufgezeichnet und sind Online nachzusehen: www.jemand-daheim.de

 

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