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(GZ-9-2024 - 3. Mai)
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Abtreibung: Barbarei oder zivilisatorische Errungenschaft

„Das Thema Abtreibung bietet alle Zutaten für einen veritablen Kulturkampf“, so Pino, unser Rathauskater. Er fragt sich, weshalb die Bundesregierung es für nötig erachtet, den deutschen grauen Mittelweg, mit dem keine der extremen Seiten so richtig einverstanden war, mit dem aber beide seit 40 Jahren in Frieden leben konnten, in Frage zu stellen.

In letzter Zeit habe ich viel über den Begriff „grau“ nachgedacht. Jetzt nicht als Farbe im materialisierten Sinne oder im Sinne Goethes, wonach alle Theorie grau sei. Nein, eher in dem Sinne, dass nachts alle Katzen grau sind oder, vielleicht konkreter, dass es auch von Vorteil sein kann, wenn es Graubereiche im Leben gibt.

Meines Erachtens ist dieses Land bisher in verschiedenen Bereichen gut damit gefahren, nicht einseitig auf „schwarz“ oder „weiß“ zu setzen, also auf eine Form der reinen Lehre, die immer nur einen Teil der Gesellschaft mitnimmt und überzeugt, sondern auf den pragmatischen Kompromiss, der einen breiten Konsens herzustellen vermag oder zumindest von allen Beteiligten akzeptiert werden kann. Kurz, eine Lösung, mit der die ganze Gesellschaft weitgehend leben kann und die damit einen breiten Rechtsfrieden garantiert.

Das war nach meinem Verständnis bisher auch in der Frage der Zulässigkeit bzw. der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen so der Fall. Man kann sich kaum ein Thema vorstellen, dass ähnlich konfliktträchtig ist wie die Frage nach der Einordnung einer Abtreibung. Einerseits die ethisch – nicht nur religiös – absolut nachvollziehbare Einordnung als Tötung der Leibesfrucht, die entweder mit nachvollziehbaren biologischen Argumenten oder aufgrund tiefsitzender religiöser Überzeugungen als Mensch angesehen wird. Die Tötung eines Menschen muss aber nach jeder humanen Rechtsordnung bestraft werden.

Auf der anderen Seite die ebenso nachvollziehbare Haltung, dass keine Frau gezwungen werden sollte, ein Kind auszutragen, wenn sie dazu nicht bereit ist. Man wird auch die Haltung „mein Bauch gehört mir“, als Ausdruck des absoluten Selbstbestimmungsrechts der Frau über ihren Körper als philosophischweltanschaulich vertretbar zur Kenntnis nehmen müssen. Jedenfalls ist diese Haltung in einem nicht unbeachtlichen Teil der Bevölkerung konsens- und anschlussfähig.

Wie gesagt, ein hoch emotionalisiertes Thema, bei dem jede und jeder wahrscheinlich eine „Wahrheit“ anerkennen kann und bei dem kaum ein größerer Antagonismus denkbar ist.

Hier liegen alle Zutaten bereit für einen veritablen Kulturkampf. Wir sehen ihn derzeit in den Vereinigten Staaten toben. In einer Reihe von Staaten ist Abtreibung in gewissen Zeiträumen nach der Empfängnis legal, während andere Staaten wiederum Abtreibungen für gänzlich unzulässig erklären, selbst wenn die werdenden Mütter halbe Kinder sind oder vergewaltigt wurden. Frankreich schreibt das Recht auf Abtreibung in die Verfassung, was dort von vielen als große zivilisatorische Errungenschaft gefeiert wird, von anderen aber als Barbarei verdammt.

In Deutschland ging man seit den 70er Jahren einen Weg zwischen den Extremen, zwischen schwarz und weiß – eben einen grauen Mittelweg. Ausgehend von einem weisen Verfassungsgericht und einer Gesellschaft, die empfänglich war – und wohl auch noch ist – für eine Lösung, die keiner Seite absolut Recht gibt, es jedoch auch jeder Seite recht machen kann. Nach unserer Rechtsordnung ist Abtreibung strafbar, wird aber nicht bestraft, wenn die Gesundheit der Frau durch die Schwangerschaft gefährdet ist, die Schwangerschaft auf einer Vergewaltigung beruht oder sich die Frau nach einer Beratung zum Abbruch entschließt.

Diese Regelung hat dem Land fast vierzig Jahre Rechtsfrieden beschert. Weder die entschiedenen Abtreibungsgegner noch die Verfechter des weiblichen Selbstbestimmungsrechts waren zufrieden, konnten aber damit leben. Die Kernanliegen beider Seiten werden nur so weit eingeschränkt, dass es eben gerade noch erträglich ist. Jetzt wollte die Bundesregierung diesen Kompromiss aufkündigen und das Land zurück in den Kulturkampf der 70er Jahre führen. Wieso?

Man sollte sich an ein Wort Henry Kissingers erinnern: „Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Partner damit gleich unzufrieden sind.“

Ihr Pino

Pino

 

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