Seit der Begriff im Jahre 2000 zum ersten Mal in einem politischen Kontext vom damaligen Fraktionschef der CDU/CSU im Bundestag, Friedrich Merz, verwendet wurde, löst er Streit und teilweise heftige Reaktionen aus. Sogleich wurde der Begriff in eine rechte Ecke gestellt und als nationalistische Vokabel gedeutet, die dazu dienen soll, Zuwanderer aus unserer Gesellschaft auszugrenzen. Dabei wurde er ursprünglich von einem Wissenschaftler geprägt, der selbst auf eine Zuwanderungsgeschichte blicken kann, dem Politologen Bassam Tibi. Er wollte damit den Wertekonsens beschreiben, der in europäischen Gesellschaften bestimmend ist und auf den sich Zuwanderer einstellen müssen, wenn sie auf Dauer in einer der europäischen Gesellschaften leben wollen. Das hat also gar nichts mit „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ zu tun, sondern nur damit, wie unsere Gesellschaft halt nun einmal tatsächlich verfasst ist.
Über die Notwendigkeit, Neuankömmlingen einen Werterahmen aufzuzeigen, den es zu respektieren gilt, will man auf Dauer in der Bundesrepublik leben, sind sich die meisten gesellschaftlichen Akteure übrigens einig. Viel wird die Verfassung bemüht, viel das christlich-jüdische Erbe, der Humanismus und die Aufklärung. Alles eigentlich Elemente des westlichen Wertekanons, die Bassam Tibi in seinem Begriff der Leitkultur integriert hat. Im Kern kann man den Begriff der Leitkultur auch mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung synonym sehen, die unser Verfassungsgericht als Basis der Gesellschaft sieht.
Der Charme beider Begriffe ist, dass sie nicht statisch sind, sondern die Lebenswirklichkeit, die sich ändernden Vorstellungen von Moral und wertekonformen Verhalten, kontinuierlich in sich aufnehmen und wiedergeben. Hätte man etwa Ende der 1950er Jahre gefragt, ob Homosexualität ein legitimer Ausdruck der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist, hätte man ein glattes Nein der Gesellschaft vernommen. Heute gelten weit mehr Spielarten der sexuellen Orientierung als völlig in Ordnung.
Das ist genau so ein Punkt, der von Zuwanderern akzeptiert werden muss – Homosexualität ist normal. Ebenso die Tatsache, dass man hierzulande Gesicht zeigt und somit Gesichtsschleier nicht nur in einer Schulklasse und vor Gericht, sondern generell gegen unsere Leitkultur verstoßen. Man gibt sich zum Gruß die Hand – das gilt auch, wenn Männer Frauen treffen. Es ist ein fatales Zeichen des mangelnden Willens, unseren Way of life (so kann man Leitkultur auch übersetzen) zu verteidigen, wenn sich jetzt eine Berliner Schule bei einem muslimischen Mann dafür entschuldigt, dass die Lehrerin seines Sohnes auf einen Handschlag beim Elterngespräch bestanden hat. Die Schweizer sind da robuster: Verweigert ein Schüler seiner Lehrerin die Hand, setzt es Strafe.
Wir sitzen derzeit ja erst auf der Spitze des Eisbergs. Die Handschlag- und Schleierfälle sind das eine. Muslimische Burschen, die sich weigern, Anordnung von Lehrerinnen oder Polizistinnen Folge zu leisten, ein Afghane, der sich vor Gericht darauf beruht, es wäre sein Recht gewesen, seine Ehefrau zu töten – in immer mehr Fällen prallen unsere Wertvorstellungen und archaische Verhaltensweisen, die teils religiös, teils aus fremden Traditionen begründet werden, zusammen.
Mein Chef, der Bürgermeister, findet, die Leitkultur ist ein freundliches Gespenst, das uns helfen wird, in Zukunft friedlich und in gegenseitiger Achtung mit den Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen zusammen zu leben. Der Begriff schließt uns alle ein und niemanden aus, denn er verhindert nicht, dass wir positive Denk- und Verhaltensweisen von anderen übernehmen. Aber immer gilt der Satz von Bassam Tibi, den ich dem Chef twittere: „Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“
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