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(GZ-24-2021)
GZ-Interview mit Andreas Krahl, Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen
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► GZ-Interview mit Andreas Krahl, Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen:

 

„Ich war den Ertrinkenden am nächsten“

Insgesamt 29 Menschen hat Andreas Krahl, Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, während seines knapp fünfwöchigen Aufenthaltes auf dem Seenotrettungsschiff Sea-Eye 4 vor dem Ertrinken bewahrt. Im Gespräch mit der Bayerischen GemeindeZeitung beschreibt er, wie der Einsatz auf dem Mittelmeer seinen Blick auf die Welt verändert hat und mit welcher Einstellung das Thema zivile Seenotrettung aus seiner Sicht forciert werden sollte.

GZ: Um Kollegen während der Corona-Pandemie auf den Intensivstationen zu unterstützen, sind Sie bereits für einige Wochen in Ihren ehemaligen Beruf als Intensivpfleger an Kliniken in Bayern zurückgekehrt (vgl. GZ 1-2/2021). Jetzt waren Sie im Herbst 2021 für knapp fünf Wochen auf dem Seenotrettungsschiff Sea-Eye 4 auf dem Mittelmeer unterwegs – warum nehmen Sie sich diese „Auszeiten“ neben Ihrem Beruf als Abgeordneter im Bayerischen Landtag?

Andreas Krahl: Das ist eine sehr gute Frage. Zum einen, weil ich sitzungsfreie Zeit habe und mein Mandat mir das ermöglicht. Zum anderen, weil ich sowohl die Rolle des Rettungssanitäters als auch die des Politikers gelernt habe.

GZ: Wie haben Sie die Rolle des Paramedic – also als Sanitäter das medizinische Teamsauf der Sea-Eye 4 zu unterstützen – erlebt?

Krahl: Der Grund für mich, warum ich das gemacht habe – neben reparieren, putzen, Inventur, Rost entfernen – ist, dass ich 29 Menschenleben vor dem Ertrinken gerettet habe.

GZ: Für diejenigen von uns, die Rettungsaktionen auf hoher See nur aus den Beschreibungen in den Medien kennen – wie haben Sie bei Ihrer ersten Seenot-
rettung geholfen?

Krahl: Ich hätte mir das anders vorgestellt. Ich fahre seit Jahrzehnten ehrenamtlich Rettungsdienst und es hat in diesem akuten Moment keinen Unterschied gemacht, ob ich in meinen Rettungswagen steige und zum Verkehrsunfall fahre oder ob ich die Menschen aus dem Wasser hole. Die Gedanken sind in diesem Moment keine anderen, sondern einfach nur: Da sind Menschen in Not und denen muss man helfen! Technisch können Menschen in Nussschalen nicht direkt aus dem Wasser in die Sea-Eye 4 geborgen werden. Deswegen haben wir zusätzlich zwei schnelle Beiboote, die eine Art „Zwischenstation“ sind. Mein Job war dabei die technische Rettung, falls es zu Bewusstlosigkeit gekommen wäre, bei dem Transport der Menschen vom Beiboot auf die Sea-Eye 4. Dazu kam der klassische medizinische Erst-Check bzw. Triage der Geretteten an Bord der Sea-Eye 4.

GZ: In einem Team kommt es immer auf jeden Einzelnen an, aber dann war ihr Job einer von denen, die bei der Rettung mit am nächsten dran waren?

Krahl: Unabhängig davon, wer was tut, kann die ganze Mission nur funktionieren, wenn man als Team funktioniert. Ja, aber ich war mit am nächsten an den Ertrinkenden dran.

GZ: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich dazu entschlossen haben, diesen Job auf der Sea-Eye 4 zu übernehmen?

Krahl: Noch vor meiner Zeit im Landtag, vermutlich im Wahlkampf im Jahr 2018, habe ich mich vor dem Hintergrund meiner Berufsausbildung bei der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye als Freiwilliger gemeldet. Dann ist erst einmal nichts passiert und dieses Jahr im März kam ein Anruf aus Regensburg von Sea-Eye, ob das Angebot noch steht. Man muss dann natürlich abwägen, sich mit der Familie beraten und dann habe ich das standardmäßige Auswahlverfahren durchlaufen. Mir war dabei wichtig, dass ich niemals eine Sonderrolle als Abgeordneter habe.

GZ: Was hatten Sie für Erwartungen und haben die Erlebnisse Ihren Blick auf das Thema zivile Seenotrettung geändert?

Krahl: Während der Vorbereitung habe ich mich gefragt, was ich eigentlich genau erwarte und ich kann es bis heute nicht wirklich beantworten. Weil für mich diese Situation immer noch so surreal ist, dass es Menschen gibt, die sich für eine Strecke von 450 Kilometer Luftlinie in ein Ruderboot setzen und versuchen über das Meer zu fahren – mit einem Rasenmähermotor. Ich hatte also keine Erwartungen, sondern bin eher offen für alles, was passiert. Dabei habe ich sehr schnell meinen Blick auf die Welt verändert. Ich war z. B. auch verantwortlich für den medizinischen Bericht der Geretteten, der für die italienischen Gesundheitsbehörden ausgestellt wurde. Wenn man dann feststellt, dass drei von vier Menschen Foltermerkmale tragen – das sind nicht nur Striemen am Rücken, sondern Narben von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut, falsch zusammengewachsene Unterarmfrakturen. Da bekommt man in der Situation einen Hass auf die Menschheit und versucht im Anschluss, dieses Bild wieder „gerade zu rücken“.

Expertenanhörung zivile Seenotrettung

GZ: Im November 2020 haben Abgeordnete und Fachleute im Europaausschuss des Bayerischen Landtags im Rahmen einer Expertenanhörung über das Thema zivile Seenotrettung diskutiert (vgl. GZ 22/2020). Wurden daraufhin Initiativen angestoßen, die zu einer Verbesserung der Situation beigetragen haben?

Krahl: Von Seiten des Bayerischen Landtags überhaupt nicht. Ich habe auch nach meiner Rückkehr einen Antrag gestellt, in dem unsere Fraktion u. a. die Einstellungen der Zahlungen an Frontex und die libysche Küstenwache gefordert hat. Dass nicht zugestimmt wurde, war mir schon klar, weil wir in der Opposition sind. Aber es hat noch nicht einmal im Wortlaut der Staatsregierung etwas verändert. Im Gegenteil: Es wurde wieder das Argument hervorgebracht, dass sich die Menschen aus Zentralafrika nur auf die Flucht nach Europa durch die Sahara machen, weil wir sie aus dem Mittelmeer herausfischen.

Ertrinken ist keine Lösung

GZ: Es ist sowohl auf politischer Ebene, als auch mit Freunden und Familie schwierig über dieses Thema zu diskutieren. Wenn Sie mit Menschen – ob mit Kollegen oder Ihrer Familie – darüber sprechen, wie argumentieren Sie und welchen Ansatz verfolgen Sie?

Krahl: Sehr häufig werden diese Diskussionen – das habe ich gerade nach meiner Mission immer wieder gehört – vermischt mit der grundsätzlichen Diskussion um Asylrecht und Einwanderung. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man es auf den Wesenskern der zivilen Seenotrettung runterbricht, verlaufen die Diskussionen oft sehr positiv. Denn egal was der Grund ist, Libyen oder ein anderes Land zu verlassen: Ertrinken ist keine Lösung. Auf diesen banalen kurzen Satz können sich verdammt viele Menschen einigen. In dem Moment, in dem Menschen im Mittelmeer ertrinken, ist es keine Option wegzuschauen. Wenn wir in Bayern mit dem Rettungsdienst zum Unfallort kommen, dann fragen wir auch nicht nach der Unfallursache – ob das Opfer vielleicht Drogen genommen oder vorsätzlich gehandelt hat und ein Verbrecher ist. Sondern wir tun das, wofür wir da sind: Wir helfen diesen Menschen. Genau mit der gleichen Herangehensweise müssen wir auch das Thema zivile Seenotrettung im Mittelmeer forcieren.

Andreas Krahl, MdL, auf der Sea-Eye 4. Bild: Andreas Krahl
Andreas Krahl, MdL, auf der Sea-Eye 4. Bild: Andreas Krahl

 

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