Kerstin Schreyer, CSU-Sozialministerin, hat den zweiten Teil des bayerischen Teilhabegesetzes für behinderte Menschen in den Landtag eingebracht. „Wir stärken damit die Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung“, erklärte Schreyer. Sie sprach von einem Paradigmenwechsel, weil bei der Zuweisung von Leistungen künftig die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen im Mittelpunkt stünden. Die alleinige Zuständigkeit der Bezirke als Träger der so genannten „Eingliederungshilfe“ für Behinderte bleibe erhalten.
Kooperationspflicht mit Kommunen
Als bedeutenden Schritt wertete Schreyer die gestiegene Bedeutung der „Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe“, in der Vertreter von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung sowie deren Angehörige zusammengefasst seien. Diese arbeite künftig als Dachverband an den Rahmenverträgen zwischen den Trägern der Sozialhilfe und den Leistungserbringern mit. Neu sei zudem die Kooperationspflicht der Träger der Eingliederungshilfe mit den kommunalen Gebietskörperschaften bei der Umsetzung von Leistungen sowie eine auch anlasslose Qualitätsprüfung von Wohnheimen oder Werkstätten für Behinderte.
Gleichwertige Lebensverhältnisse
Kerstin Celina (Bündnis 90/Die Grünen) begrüßte die Fortschritte im Gesetz. Um die gestärkte Mitbestimmung der Behinderten auch wirksam werden zu lassen, müsse der Freistaat diesen aber auch alle nötigen personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellen. Neben der Mitbestimmung müsse auch die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse für Behinderte in allen Landesteilen gewährleistet sein, betonte Celina. Bei der Gewährung von Leistungen gebe es noch zu große Unterschiede zwischen den Regierungsbezirken. Hier brauche es einheitliche Vorgaben seitens des Freistaats.
Als „gut gemeint, aber nicht gut gemacht“, bewertete Ulrich Singer (AfD) die Vorlage Schreyers. Die von der Ministerin gelobte Individualisierung durch die Trennung der personenbezogenen Fachleistung und der Zuschüsse zur Existenzsicherung sorge für zusätzliche Bürokratie. Viele Leistungsempfänger seien mit dem bisherige System zufrieden und stünden der Umstellung skeptisch gegenüber. „Das Gesetz ist kein großer Wurf, sondern schafft ein Bürokratiemonster, das den Menschen mit Behinderung nicht dient“, sagte Singer. Dem widersprach Ruth Waldmann (SPD). Die individuelle Bedarfsermittlung sei ein Fortschritt und kein Bürokratiemonster. Damit und mit der institutionalisierten Beteiligung der Betroffenen seien „echte Meilensteine“ im Gesetz verankert worden.
Schritt in den Arbeitsmarkt
Dagegen hielt Julika Sandt (FDP) die Vorlage für zu kurz gesprungen. Das Gesetz regele nur das Notwendigste, die Betroffenen hätten mehr verdient, urteilte Sandt. Als Beispiel nannte sie die aus ihrer Sicht weiterhin unbefriedigende Regelung für den Übergang aus Behindertenwerkstätten in den regulären Arbeitsmarkt. Für viele Betroffene sei dieser Schritt noch immer zu riskant und zu wenig attraktiv.
Gelungene Inklusion
Lob kam von Andreas Jäckel (CSU). Das Gesetz schaffe die „richtigen Rahmenbedingungen für gelungene Inklusion“, sagte er. Es nehme die Forderung der Betroffenen auf, dass nicht ohne sie über sie entschieden werde. Johann Häusler (Freie Wähler) betonte, die Vorlage setze weitere Punkte der UN-Behindertenrechtskonvention um. Der Freistaat dokumentiere damit seine Wertschätzung für Behinderte und chronisch Kranke.
Trennung der Fachleistungen
Mit der Umsetzung der im Rahmen des Beteiligungsprozesses erarbeiteten Ziele wurde bereits durch das Bayerische Teilhabegesetz I begonnen. Insbesondere enthält das BayTHG I die abschließende landesrechtliche Umsetzung des BTHG für den Bereich der Frühförderung für Kinder mit Behinderung und das Budget für Arbeit. Das Bayerische Teilhabegesetz II (BayTHG II) knüpft inhaltlich an die Regelungen des BayTHG I an. Wesentliche Neuregelungen enthält das BayTHG II nicht. Vielmehr wird auf Landesebene das Inkrafttreten der dritten Reformstufe des BTHG, insbesondere die Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe, nachvollzogen.
Neubestimmung konnexitätsrelevant?
Aus Sicht der Staatsregierung ist nicht davon auszugehen, dass die Bestimmung der Bezirke als Träger der Eingliederungshilfe konnexitätsrelevant ist. Die Bezirke nehmen bereits jetzt die Aufgaben der Eingliederungshilfe als Aufgaben des eigenen Wirkungskreises wahr. Die bisherige kommunale Aufgabe wird durch die landesrechtliche Umsetzung des BTHG inhaltlich nicht ausgeweitet. Eine andere landesrechtliche Verortung der Zuständigkeit ist lediglich deshalb erforderlich, weil die Eingliederungshilfe auf Bundesebene gesetzestextlich anders verortet wird. Die Kommunalen Spitzenverbände halten dagegen die Neubestimmung der Bezirke als Träger der Eingliederungshilfe für konnexitätsrelevant. Sie begründen dies insbesondere mit dem neuen Aufgabencharakter der Eingliederungshilfe aufgrund der Herauslösung aus dem Fürsorgerecht der Sozialhilfe.
Verbände fordern Ausgleich
An die Aufgabenerfüllung werden aus ihrer Sicht neue Anforderungen gestellt. Dass sich die neuen Leistungen unmittelbar aus dem Bundesrecht ergeben, ist bei der konnexitätsrechtlichen Bewertung nach Auffassung der Kommunalen Spitzenverbände kein durchgreifendes Argument, da der Freistaat dem Gesetzentwurf zum BTHG im Dezember 2016 zugestimmt habe. Für die Konnexitätsrelevanz sei daher schon die landesrechtliche Zuständigkeitszuweisung an die Kommunen ausreichend. Sofern mit den neuen Anforderungen an die Aufgabenerfüllung finanzielle Mehrbelastungen für die Kommunen verbunden sein sollten, wären diese nach Ansicht der Kommunalen Spitzenverbände daher vom Staat auszugleichen.
Kommunalentlastung anrechnen
Nach Auffassung der Staatsregierung wäre auf eventuelle Mehrbelastungen die Kommunalentlastung des Bundes in Höhe von fünf Milliarden Euro jährlich durch das Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen anzurechnen. Der Anteil der bayerischen Kommunen an dieser Entlastung beträgt alleine 2019 rund 777 Millionen Euro (Stand Mai 2019). Die Anrechnung wäre vorzunehmen, da die Entlastung in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Verabschiedung des BTHG und den dort geregelten Aufgaben steht. Der sachliche Zusammenhang zwischen Reform der Eingliederungshilfe und Entlastung der Kommunen ist ersichtlich aus dem Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode vom 16.12.2013 zwischen CDU, CSU und SPD.
Evaluation der Kosten
Die Einigung zwischen Bund und Ländern über die Transferwege der Entlastung erfolgte dann ebenfalls im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren des BTHG. Das Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen wurde im Dezember 2016 kurz vor Verabschiedung des BTHG erlassen. Auch der enge zeitliche Zusammenhang ist daher gegeben.
Die Entlastung erfolgt seit 2018 über den Umsatzsteueranteil der Länder und der Gemeinden sowie die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II. Seinen Umsatzsteueranteil leitet der Freistaat Bayern durch eine Erhöhung der Schlüsselzuweisung an die bayerischen Kommunen weiter. Die Kommunalen Spitzenverbände und die Staatsregierung werden die Umsetzung des BTHG und deren finanzielle Auswirkungen evaluieren. Insbesondere wird evaluiert, inwieweit sich ein Anstieg der Kosten ergibt, der signifikant über die bereits in der Vergangenheit, unabhängig vom BTHG, festzustellenden Kostensteigerungen hinausgeht. Dabei sollen sowohl die jeweiligen Ausgaben und Einnahmen als auch die Entwicklung des Personaleinsatzes in den Blick genommen werden.
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