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(GZ-20-2020)
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► Internationaler Tag der Obdachlosen:

 

„Kein Mensch dritter Klasse mehr sein“

Erzählung eines Betroffenen

 

Der Beruf kam seinen Neigungen sehr entgegen: Als junger Mann tauchte Waldemar K. in die Welt der Hotellerie ein. Im „Hilton“ lernte er die High Society kennen. Auf Kreuzfahrtschiffen besah er sich die Welt. Dann kam der Absturz. „Heute werde ich als Mensch dritter Klasse behandelt“, sagt der wortgewandte 60-Jährige, der seit 15 Jahren auf der Straße lebt. Mehr Wertschätzung, das wäre sein größter Wunsch zum Tag der Wohnungslosen am 11. September, meint K., der erst vor Kurzem in Würzburg eintraf.

Man sieht Waldemar K. sofort an, dass er einmal eine dynamische Persönlichkeit war, unternehmungslustig und tatkräftig, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Der Abstieg begann, als sich die Arbeitsbedingungen in seiner Branche drastisch verschlechterten:

„Nach dem Mauerfall wurde der Markt geöffnet, billige Arbeitskräfte kamen, die Konditionen wurden immer mieser, ich hatte keine Perspektive mehr.“ Extrem zu schaffen machte ihm außerdem, dass seine Lebensgefährtin zwei Fehlgeburten hatte. Die Beziehung ging schließlich in die Brüche. Waldemar K. suchte Trost im Alkohol. Sein Leben entglitt ihm immer mehr. Im Mai 2005 landete er auf der Straße.

Wie Obdachlose behandelt werden, lässt sich auf eine einfache Formel bringen, meint Waldemar K.:

„Man ist nicht mehr gesellschaftlich gleichgestellt.“ Sondern man ist „der“ oder, schlimmer noch, manchmal gar „das“ Letzte. Der gelernte Restaurantfachmann nennt ein Beispiel, das ihn immer wieder fuchsig macht: „Es gibt Jobcenter, da muss ich um 8.30 Uhr meinen Pass abgeben, bekomme aber erst um 12 Uhr meinen Tagessatz ausbezahlt.“ Derweil werden die anderen „Kunden“ bedient. Waldemar K. kommt dadurch in die Bredouille. Denn er muss weiter. Zum nächsten Ort. Wo es den nächsten Tagessatz gibt. Und im besten Fall ein warmes Bett.

Waldemar K. hat den Mut von sich zu erzählen, denn er weiß, was er kann. Dadurch, dass er auf Schiffen unterwegs und in internationalen Hotels tätig war, spricht er fließend Englisch, Französisch und Italienisch. Aber auch mit einem Spanier könnte er sich unterhalten. Oder mit einem Polen. Damit ist er keine Ausnahme: „Ich habe in den letzten 15 Jahren auf der Straße Psychologen, Rechtsanwälte und Doktoren kennen gelernt, die ebenso abgestürzt waren.“ Die wenigsten würden jedoch über sich sprechen. Denn die Scham sei riesengroß.

Versteckspiel kostet Kraft

Die meisten versuchten, sich so zu verhalten, dass nicht das Geringste auf ihre Situation hinweist: „Doch dieses Versteckspiel kostet eine wahnsinnige Kraft.“ Auch Waldemar K. hat das Gefühl, bald nicht mehr zu können. Das Straßenleben hat ihn krank gemacht; GdB 90 wurde ihm anerkannt. Schon vor zwei Jahren ließ er sich bei der Christophorus-Gesellschaft auf die Warteliste für das „Betreute Wohnen“ setzen: „Gestern hörte ich, dass es sehr wahrscheinlich klappen wird.“ Waldemar K. sehnt sich nach einer festen Bleibe.

Die Würzburger Christophorus-Gesellschaft ist bei Wohnungslosen sehr beliebt, denn hier erhalten sie mehr Unterstützung als an vielen anderen Orten, schildert Waldemar K. im Aufenthaltsraum der Kurzzeitübernachtung (Herberge). Wacht er morgens auf, kann er ein Stockwerk höher in die Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose (ZBS) gehen, wo ihm der Tagessatz ausbezahlt wird. Er muss also nicht, wie in anderen Städten, drei Stunden lang warten. Gut tat ihm die herzliche Begrüßung von Michael Schramm, der ihn trotz Maske erkannte, obwohl er schon zwei Jahre nicht mehr hier war.
Waldemar K. erzählt, dass er harte Monate hinter sich hat.

Nach Ausbruch der Corona-Krise waren die Notschlafstätten wochenlang geschlossen oder sie wurden nur eingeschränkt betrieben. Eine eiskalte Nacht im März bleibt ihm unvergesslich: „Ich bin mal wieder abgewiesen worden, weil keiner mehr in die Notschlafstätte durfte, das war in Mainz.“ Waldemar K. wollte nicht mitten in der Stadt „Platte machen“. Also tigerte er fünf Kilometer an die Peripherie. Dann fing es an, in Strömen zu regnen. K. entdeckte einen Friedhof: „Zum Glück stand an der Leichenhalle eine überdachte Bank.“ Er breitete seine Isomatte und den Schlafsack aus. Und nickte endlich ein.

Doch außer den Notschlafstätten hatten noch verschiedene andere, wichtige Einrichtungen geschlossen:

„Vor allem auch die Jobcenter.“ Drei Tage lang war es für Waldemar K. nicht möglich gewesen, den Tagessatz abzuholen. Er musste ohne einen einzigen Cent klarkommen:

„Da begann ich, Pfandflaschen einzusammeln.“

Für zwei Pfandflaschen konnte er sich ein Brötchen leisten. Fand er vier Flaschen, ging er zum Discounter und holte sich das billigste Päckchen Wurst:

„So kam ich zu meinen Mahlzeiten.“

Doch er musste ja weiter. Brauchte Geld für einen Fahrschein. Um irgendwo ein Bett zu finden. Eine Dusche. So ging die Flaschensuche weiter.

Günther Purlein

 

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